Keine Antwort ist auch eine Antwort

Hat man heutzutage keine Lust mehr auf eine zwischenmenschliche Verbindung sexueller oder freundschaftlicher Natur, entledigt man sich der unerwünschten Person einfach durch „Ghosting“. Ein Bericht über das feige Schlussmachen in Grossstädten von erwachsenen Menschen.

Wer ghostet, bricht den Kontakt ab, indem er nicht mehr kommuniziert. Dies passiert in der Regel ziemlich schnell und abrupt. So verschwindet die nicht mehr interessierte Person wie ein Geist; er oder sie löst sich in Luft auf. Das „Ich geh mal kurz Zigaretten“-Phänomen gab es zwar schon vor WhatsApp und Facebook. Aber haben uns die modernen Kommunikationsmittel unhöflicher gemacht? Früher musste man für eine Kontaktaufnahme den Telefonhörer in die Hand nehmen. Heute hat man auch dank unzähligen Dating-Plattformen die Auswahl an Menschen. Läuft einem virtuell jemand Spannenderes über den Weg, so lässt man die „alte“ Person links liegen und widmet sich der neuen zu. Durch das nicht mehr melden, löst sich das Problem irgendwann ho)entlich von alleine.

Gilt also die Formel: Lernt man sich unverbindlich kennen, kann es auch unverbindlich enden? Heutzutage sieht man die zwei blauen Häkchen auf WhatsApp, die bestätigen, dass eine Nachricht gelesen wurde. So sieht man auch, dass einem jemand bewusst nicht mehr antwortet.
Vor allem in Schweizer Grossstädten wie Zürich wiederholt sich dieses Phänomen unverho)t oft. Denn auf dem Land läuft man sich immer wieder über den Weg und da man sich in einer Kleinstadt eh schon kennt, muss man auch nicht auf Dating-Apps zurückgreifen. In „Downtown Zurich“ jedoch gelten wie in anderen grösseren Städten auch andere Regeln. Oder Nicht-Regeln.

Nennen wir ihn Jürg. Jürg ist 43, Teamleiter, hatte eine Ehe hinter sich und wusste deshalb theoretisch, wie man eine langjährige Beziehung führt. Nachdem er mit einer Bekannten über Wochen intensiven angebandelt hatte, sie sich stunden-, tage, und nächtelang SMS geschickt hatten, er ihr den Schmus mit Doppelnamen-Andeutungen, roten, pochenden Emoji-Herzen und Aussagen wie „es muss Schicksal sein, dass wir uns getro)en haben“ gebracht hatte, wollte man sich zum dritten Mal tre)en. Am vereinbarten Tag schrieb ihm die Bekannte. Jürg antwortete charmant: „Liege mit Männergrippe darnieder, such Dir einen anderen zum Rummachen.“ Das war das letzte, was sie von ihm hörte – er blockte darauf ihre Nummer und löschte sie auf Facebook. Sie war perplex, als sie merkte, dass er den Kontakt so jäh abgebrochen hat. Ohne eine Verabschiedung oder einer erklärenden Antwort. Jürg hatte das 1×1 des Ghostings angewendet. Was viel über unser männliches Beispiel und dessen Charakter aussagt. O)enbar ist Geister-Jürg mit seinem Verhalten nicht alleine. Sonst hätte man nicht extra einen Begri) dafür erfunden.

Warum benehmen sich Ghoster in zwischenmenschlichen Beziehungen so unfein? Liegt es an Feigheit, weil man den Konflikt scheut, weil durch das Verschwinden kein Drama entsteht und es keine Diskussionen gibt? Ist es ein neumodisches Problem und deren „Lösung“ so einfach, weil man eine Nummer einfach blocken kann? Beziehungsweise hat man 1998 einfach nicht so schnell gemerkt, dass man geghostet wurde, da man sich einreden konnte, dass der Angebetete grad am Einkaufen war und deshalb den Telefonanruf verpasst hat? Ist es Egozentrik, da es dem Abtauchenden egal ist, wie es dem Gegenüber danach ergeht, da sich für ihn das „Problem“ ja erledigt hat?
Wäre das Quizfragen in einem Frauenmagazin, müsste man die Option „all die oberen Antworten“ ankreuzen. Denn es ist ein Mix all der oben genannten Theorien, die einen Ghoster so handeln lassen, wie er es tut. Sie hinterlassen verbrannte Erde, weil man sich durch den Kommunikations- Boykott am Einfachsten aus der misslichen Lage befreien kann.

Will eine Seite die subtilen „Keine Zeit“-Hinweise der anderen Seite einfach nicht kapieren, rät einem das Umfeld schon früh im Leben: „Lass es doch einfach versanden.“ Was natürlich nicht die feine englische Art ist. Nur leider hat uns in der Schule nie jemand die feine englische Art beigebracht. Dafür Algebra. Danke, Schulsystem.

Eine Freundin lernte in Zürich den Wirtschaftsstudenten und Texaner Ray kennen. Die Liebelei zog sich über Wochen hin. Als er nach seinem Austauschstudium wieder in seine Heimat zurückkehrte, schlug er ihr vor, dass sie ihn in Houston besuchen komme. Die Freundin sagte zu, das Datum war gesetzt. Wochen später fragte sie intuitiv nochmal einmal nach: Ob sie wirklich kommen solle. Der 32-jährige bejahte und meinte, er freue sich auf ihren Besuch. Daraufhin buchte die Freundin den nicht gerade billigen Flug. Zwei Wochen vor Abflug meldete der Texaner sich: Er müsse zum vereinbarten Zeitpunkt beruflich nach Los Angeles. Sie, ein Neuling im geghostet-werden, erwiderte, sie könne den Flug auch nach L.A. umbuchen. Darauf kam keine Antwort mehr, Telefonanrufe wurden ignoriert. Jahre später fragte sie ihn, warum er sich damals so verhalten habe. Seine Antwort: Er habe finanzielle Probleme gehabt. Und eine noch nicht abgeschlossene Geschichte mit seiner Ex-Freundin. Es tue ihm sehr leid.

Geldprobleme, Beziehungsprobleme. Zwei Dinge, die man nachvollziehen könnte. Gäbe es denn ein o)enes Gespräch unter Erwachsenen. Aber der Abtaucher geht automatisch davon aus, dass bei einer Konfrontation ein Seifenoper-ähnliches Drama entsteht. Menschen scheuen sich vor den daraus entstehenden Diskussionen. Da ist es einfacher, seinen Social Media-Tod vorzutäuschen und abzutauchen.

Oder die Geschichte einer Kollegin, die auf einer bekannten Dating-Website Vincent kennenlernte. Nachdem man sich tagelang nette Sms schickte, lud sie der 47-jährige Treuhänder zu sich nach Hause in der City ein. Für das erste Date. Als sie sagte, dass ihr ein Tre)en auf neutralem Boden lieber wäre, schwafelte er plötzlich etwas von: „Habe momentan grad viel zu tun“. Daraufhin löschte er die Verbindung auf der Website und ging auch auf ihre SMS nicht mehr ein. Zuviel der Liebesmüh, wenn man doch nur auf das Eine aus ist. Denn wenn man schon Hunderte von Franken hinlegt für ein Dating-Abo, dann soll es sich gefälligst auch lohnen.

All die hier genannten Beispiele haben sich genau so zugetragen und sind nicht erfunden. Die Ghoster sind volljährige, mündige Menschen, die souverän und angesehen durchs Leben gehen. Menschen, die im Beruf Erfolg haben, aber privat jämmerlich versagen. Die sich abends und am Wochenende unreif verhalten, tagsüber aber problemlos ganze Teams leiten. Ein Leben in einem der teuersten Städte der Welt führen, emotional aber bankrott sind. Warum tun sie so etwas? Wieso fehlt Menschen, die über wichtige Initiativen abstimmen dürfen, jegliche Moral, wenn es um das Beenden einer Beziehung, welcher Form auch immer, geht? Wurde uns das korrekte Schlussmachen von unseren Eltern nie beigebracht und drum ist es ein Problem, dass sich von Mellingen bis Melbourne durchzieht?

Nicht nur potentionelle Partner können einen über Nacht oder wenige Wochen verlassen, nein, es gibt auch Freundschafts-Ghoster. Wir Frauen kennen das ja alle: Wir haben diese eine Kollegin, die immer abmachen will und man selbst hat nicht mehr so Lust auf diese Freundschaft/ Kollegschaft/Bekanntschaft. Aber man weiss nicht, wie man nach all den Jahren aus dieser Verbindung wieder herauskommt.

Das führt uns zu Lena, 36.
Lena wollte nicht mehr mit meiner Kollegin befreundet sein. Was eigentlich okay ist, auch wenn die Geschasste in spe es zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden hätte. Denn selten sind Freundinnen von Kindergarten bis Altersheim eine Einheit. Wege trennen sich, neue Menschen kommen hinzu, der natürliche Lauf der Dinge. Von Lena hätte sich meine Kollegin gewünscht, dass sie sich vis-à-vis von ihr hingesetzt und den Respekt für die vergangene Freundschaft aufgebracht und gesagt hätte: „Ich habe leider kein Interesse mehr, diese Freundschaft weiterzuführen. Entschuldige.“ Die Ghosterin konnte aber nicht den Mut aufbringen und das so artikulieren. Was ich verstehe – es gibt angenehmere Gespräche. Lena wählte die unfeine Methode des Auslaufen-Lassens: Sie meldete sich immer weniger und dann gar nicht mehr. Heute, nachdem sie ihr Ziel erreicht und die Message angekommen ist, ho)t man, einander nicht zu begegnen. Damit es nicht zu unangenehmen Begrüssungen und gequältem Smalltalk kommen möge. Es ist ein bisschen so, wie wenn man auf der Strasse dem Ex begegnet: Muss nicht sein.

Wie Jürg, Ray und Vincent war auch Lena im Berufsleben um einiges fähiger als in ihrer Freizeit: Sie legte in den letzten Jahren eine beispiellose Karriere hin. Hätten sie und ihre Mitghoster anders gehandelt, wenn sie gewusst hätten, wie es sich anfühlt, geghostet zu werden? Dass man verwirrt ist, weil man nicht weiss, ob es nur eine Phase ist, man sich das Ghosting einbildet oder ob man tatsächlich geschasst wird. Die Realisierung, wenn man bemerkt, dass es keine Phase ist und man wirklich entsorgt wurde. Wie beschämend es sich anfühlt. Wie dumm man sich vorkommt, wenn man sich selbst eingestehen muss, dass es das war und dass nichts mehr kommen wird. Keine Erklärung, kein Auseinandersetzen mit der Situation. Dass man stehengelassen wird. Man fragt sich: “Was hab ich falsch gemacht?“ und wird nie eine Antworten darauf kriegen. Man kriegt nicht mal ein letztes SMS, welches heutzutage gratis ist. Und so muss man mitunter schmerzhaft erfahren, dass man einem Menschen nichts mehr wert ist und wohl schon länger auch nichts mehr wert war.

Schlussendlich geht es um Anstand. Und Respekt. Darum, sich in das Gegenüber hineinversetzen zu können und zu wollen. Man muss sich selbst die Frage stellen: „Wie hätte ich gerne, dass man mit mir schlussmacht?“

Am Schluss noch einen Aufruf zu mehr Mut: Die ersten Momente des Schlussmachens sind die Schwierigsten, danach aber ist es vorbei und sie haben es gescha)t. Sie können sich wieder im Spiegel schauen. Und nachts mit reinem Gewissen einschlafen. Und sich in die Augen schauen, wenn sie sich an der Langstrasse zufällig über den Weg laufen.

Und zu allerletzt gebe ich allen zukünftigen Ghostern in diesen Satz mit auf den Weg: „Ich bin leider zuwenig am Weiterführen unserer A)äre/Freundschaft/Beziehung interessiert. Ich wünsche Dir alles Gute.“ Gerngeschehen.

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