Ukrainische Kinder an der Schule Menzingen

«Jeden Tag Deutsch zu lernen, ist anstrengend»

Fast 40 Mädchen und Buben vom Kindergarten- bis zum Teenageralter aus der Ukraine besuchen zurzeit die Schule Menzingen. Wir haben uns ein Bild von der besonderen Situation gemacht und mit Betroffenen gesprochen.

Sechs Jugendliche im Alter zwischen 13 und 16 Jahren sitzen im Schulzimmer 2 im Oberstufenschulhaus Ochsenmatt in Menzingen. Einige von ihnen haben Kopfhörer aufgesetzt und schauen auf ihren Laptop. Auf den ersten Blick eine ganz normale Klasse. Doch der Eindruck täuscht. Denn hier sitzen Mädchen und Buben, die sich bis vor wenigen Wochen noch nicht kannten und mit grosser Wahrscheinlichkeit auch noch nie in der Schweiz waren. Es handelt sich um ukrainische Flüchtlingskinder, die mit ihrer Familie – hauptsächlich Mutter und Geschwister – vor ein paar Wochen in die Schweiz geflüchtet sind und in Menzingen ein neues Zuhause gefunden haben. Ein temporäres Zuhause, wie die meisten von ihnen hoffen. Doch wissen kann das zurzeit niemand.

Eine siebte Schülerin betritt den Raum. «Kann ich here sit?», fragt sie Tekla Hahin. Hahin ist die Lehrperson dieser Klasse. Sie nickt und wiederholt die Frage in korrektem Deutsch: «Kann ich mich hierhin setzen?» Die 14-Jährige aus der Ukraine schmunzelt und setzt sich neben ihre Kollegin. Einige ihrer neuen Mitschülerinnen sitzen noch an einer Prüfung, andere sind schon fertig und suchen auf ihrem Bildschirm Gegenstände, die ihnen eine Stimme über die Kopfhörer vorgibt. «Es ist eine absolute Ausnahmesituation, aber auch sehr spannend», sagt Tekla Hahin, die viele Jahre Erfahrung als Oberstufenlehrerin mitbringt.

Menzingen Lehrerin

Tekla Hahin ist die Klassenlehrperson der ukrainischen Schüler. «Es ist eine absolute Ausnahmesituation, aber auch sehr spannend», sagt sie. Bild: bol

Und schon wird sie von einem jungen Ukrainer gebraucht, der vor einem Buchstaben-Wirrwarr sitzt. Er muss die Lettern so ordnen, dass ein vernünftiges Wort entsteht. Seine Geduld scheint heute nicht sehr gross zu sein. Dafür ist seine Müdigkeit umso grösser. Immer wieder verdrückt er sich ein Gähnen. «Den ganzen Tag mit einer fremden Sprache konfrontiert zu sein, ist anstrengend und macht müde», zeigt Tekla Hahin Verständnis. In erster Linie lernen die ukrainischen Kinder an der Schule Menzingen – zurzeit sind es fast 40 Mädchen und Buben – Deutsch. Einige können schon ganz gut Englisch und sich wenn nötig, auch so verständigen. Andere weniger, es hängt dies stark davon ab, aus welcher ukrainischen Region sie stammen.

Zumindest nicht Chinesisch

Yaroslav ist mit seiner Mutter und seinem Bruder im Februar aus Kiew in die Schweiz geflüchtet. Ihm gefällt es hier, auch wenn er seine Heimat vermisst und er möglichst bald wieder nach Hause möchte. Das Schulsystem sei hier ganz anders. «Das schwierigste ist, den ganzen Tag eine fremde Sprache zu lernen und zu hören.» Deutsch sei schwierig, aber nicht so schwierig wie Chinesisch, meint er und lacht. In seinem Heimatland hat er vor allem mit Büchern gelernt. Frontalunterricht, Gruppenarbeiten oder mit dem Laptop in der Schule zu lernen, kannte er so noch nicht. Auch seien die Klassen in seiner Schule viel grösser gewesen, mit etwa 30 Kindern.

Menzingen Schüler

Yaroslav ist mit seiner Mutter und seinem Bruder im Februar aus Kiew in die Schweiz geflüchtet. Bild: bol

Tekla Hahin hat von den Schülern erfahren, dass Lehrpersonen in der Ukraine keine grosse Anerkennung geniessen. «Ihnen wird nicht derselbe Respekt entgegengebracht wie hier.» Also musste sie den ukrainischen Kindern zuerst beibringen, dass Lehrpersonen hierzulande wie alle anderen Menschen respektvoll behandelt werden sollen. Im Unterricht dürfen sie kein Ukrainisch reden. «Wir sprechen Deutsch, wenn nötig Englisch oder mit Händen und Füssen.»

Ein offenes Ohr? Ja, aber…

Zum Teil schlug ihr anfangs Unverständnis entgegen, als man den Kindern verbot, während des Unterrichts zu chatten. Soeben sieht sie bei einem jungen Mann, dass er sein Lernprogramm auf Russisch und nicht auf Deutsch eingestellt hat. Sie macht ihn darauf aufmerksam und bittet ihn, es zu ändern.

Natürlich geht Hahin, die bald pensioniert wird, das Schicksal ihrer neuen Schülerinnen nahe. «Aber es ist wichtig, dass wir uns auf das Schulische konzentrieren.» Die Lehrpersonen seien auch angehalten, die Kinder nicht nach ihren persönlichen Geschichten zu fragen. «Wenn jemand reden möchte, bin ich gerne mit einem offenen Ohr da, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Wir haben dafür Fachpersonen.»

Die Solidarität ist gross

Jeden Morgen von 8.20 bis 11.40 Uhr lernen die ukrainischen Kinder Deutsch. Sie lesen Texte und zeichnen dann auf Papier, was sie davon verstanden haben. Sie füllen Lückentexte aus, hören oder lesen Dialoge und müssen dann entscheiden, ob die Behauptungen dazu stimmen oder nicht. «Wie bei allen Kindern, gibt es auch hier verschiedene Lerntempi und auch die Motivation ist unterschiedlich gross», so Hahin. Die Schüler werden zusätzlich in einzelnen Lektionen in die Regelklassen integriert. In Fächern wie Musik, Bildnerisches Gestalten, Mathematik oder Gartenarbeit.

Menzingen Gartenarbeit

Die Schüler werden in einzelnen Lektionen in die Regelklassen integriert. In Fächern wie Musik, Bildnerisches Gestalten, Mathematik und Gartenarbeit. Bild: bol

Nicht nur für die Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine ist die Situation neu. Auch für die Schweizer Schülerinnen ist es eine Ausnahmesituation. Wie eine kleine Umfrage im Lehrpersonenzimmer zeigt, funktioniert dies aber grösstenteils gut. «Die grosse Herausforderung folgt nach den Sommerferien, wenn alle ukrainischen Kinder in die Regelklassen integriert werden», meint eine Lehrperson.

Auch bei den Schweizer Schülerinnen ist viel Verständnis und Solidarität zu spüren. Hauptsächlich hatten sie bis jetzt mit ihren neuen Mitschülern aus der Ukraine in Wahlfächern, im Sport oder in der Projektwoche zu tun. «Manchmal fühle ich mich fast schlecht, dass es uns hier so gut geht», sagt eine 16-jährige Schülerin aus der 3. Oberstufe. Ihr sei es wichtig, die «Neuen» zu integrieren und miteinzubeziehen. Beispielsweise tut sie dies in der Pause beim Verstecken spielen. Ihre Kollegin erzählt, dass eine Drittklässlerin aus der Ukraine sehr traurig gewirkt und sich immer zurückgezogen habe. «Dann haben wir ihr gesagt, sie solle mit uns spielen, was sie auch tat. Und am Schluss hat sie mich umarmt.» Es sei für uns nicht vorstellbar, was diese Kinder erlebt haben und auch jetzt durchmachen müssen. «Deshalb ist es wichtig, dass wir gemeinsam für sie da sind», sind sich die beiden jungen Frauen einig.

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