Wofür rüstet sich die Schweiz?

Nachfrage nach Waffenscheinen

Nach zwei Jahrzehnten der Reduktion des Waffenbesitzes entdecken die SchweizerInnen ihre Vorliebe für Projektilwaffen wieder. 2022 wurden bisher so viele Waffenscheine ausgestellt wie lange nicht mehr. Steckt dahinter die Liebe zum Schützensport oder doch ein verändertes Sicherheitsgefühl?

In der Schweiz sind wir den Anblick von Waffen gewohnt. Die liberalen Waffengesetze erlauben nicht nur Armeeangehörigen, mit ihrem Sturmgewehr durch das Land zu reisen, auch SportschützInnen dürfen ihre Waffen im öffentlichen Verkehr transportieren. Hinzu kommen die zahlreichen regional verankerten Schützenvereine, die mit öffentlichen Veranstaltungen auch ein breiteres Publikum anlocken.

Alle volljährigen BürgerInnen, die keine Einträge wegen gewalttätiger Handlung oder wegen wiederholt begangener Verbrechen im Strafregister stehen haben, dürfen in der Schweiz offiziell eine Schusswaffe erwerben. Und genau dieses Recht nutzten in diesem Jahr bisher besonders viele SchweizerInnen. Mit den 11’119 Waffenerwerbsbewilligungen im ersten Quartal 2022 gab es bundesweit so eine Steigerung von knapp über 29 Prozent, wie es von Seiten des Bundesamts für Polizei (Fedpol) heisst. Die Ablehnungsquote der Kantone liegt dabei im Schnitt unter 5 Prozent.

Im Vergleich zu 2021 stieg die Nachfrage nach einem Waffenschein in einigen Kantonen um bis zu 60 Prozent – wie etwa im Aargau. Für die Kantonspolizei Aargau ist die Zunahme auffallend, vor allem weil der Trend schon in den vorherigen Jahren nach oben zeigte.

Nationale Übersicht gesucht

Die Gesuche für einen Waffenerwerbsschein müssen dabei nicht begründet werden. Offiziell genannt werden im Formular zwar häufig der Schiesssport oder die Jagd, aber das Begründungsfeld kann auch ganz ausgelassen werden. Eine Abklärung der Beweggründe für den Waffenerwerb gibt es generell nicht.

Waffen Zoll

Immer wieder stösst der Schweizer Zoll auf solche Funde. Bild: Facebook Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit

Ebenso wenig existiert ein nationales Register auf Seiten des Fedpol. Jedes der kantonalen Waffenbüros arbeitet hier für sich. Informationen müssen so umständlich auf Anfrage in Erfahrung gebracht werden. Zuletzt forderte sogar Fedpol-Direktorin Nicoletta della Valle selbst ein schweizweites Waffenregister.

Die Schweiz rüstet auf

Die erhöhte Nachfrage nach Schusswaffen in der Schweiz steht dabei im Gegensatz zu den letzten beiden Jahrzehnten. So nahm der Anteil der Haushalte mit Schusswaffen kontinuierlich ab – von 35,4 Prozent im Jahr 2000 auf 22,5 Prozent im Jahre 2015. Verglichen mit 2004, behielt 2018 nur noch ein Drittel der Soldaten sein persönliches Sturmgewehr nach dem Ende der Militärdienstpflicht. Damit verbunden war gemäss des Bundesamtes für Statistik auch ein Rückgang des Anteils der Tötungsdelikte mit Schusswaffen. Im Zeitraum von 2009 bis 2016 sank dieser um 14 Prozent im Vergleich zu den frühen 2000ern.

Waffen Laden

Ein neues Jagdgewehr soll es sein. Bild: Nomadsoul / Depositphotos

Der jetzige Anstieg der Nachfrage könnte Teil einer natürlichen Wellenbewegung am Markt sein. So sorgte zuletzt 2019 die Revision des Waffenrechts für einen Ansturm auf Schusswaffen. Damals wurde die gesetzliche Regelung für bestimmte halbautomatische Waffen verschärft, welche klein sind und deren Magazine viel Munition fassen können.

Die letzte Verschärfung in diesem Bereich erfolgte allerdings nur für die Waffenläden. So wurden die Sicherheitsanforderungen zum 1. Januar 2022 erhöht. Türen und Fenster müssen höhere Sicherheitsstandards erfüllen, eine ständige Alarmanlage und Videoüberwachung sind Pflicht und Waffenarten wie die Seriefeuerwaffen müssen in speziellen Sicherheitsschränken aufbewahrt werden.

Erstkunde auf der Schiessanlage

Ein möglicher Grund für die aktuelle Aufrüstung der Schweiz mag die Coronapandemie beziehungsweise die Aufhebung der Schutzmassnahmen im Frühjahr 2022 sein. Grosse Indoor-Schiessanlagen sind in der Deutschschweiz aktuell sehr gefragt. Anders als die klassischen Schiessstände der Schützenvereine in der Natur, werden die Schiessneugierigen hier an moderne Anlagen herangeführt, wie man sie so bis vor ein paar Jahren nur aus den USA kannte.

Die Schiessanlagen bieten dabei Zielscheiben mit flexibler Distanz, Kurse für Einsteiger bis Expertinnen, berufliche Weiterbildungen und sogar dynamische Trainingseinheiten. Eine Erfahrung ganz ohne das Beisammensein eines Schützenvereins. So entsteht in Itingen (BL) aktuell eine der grössten dieser Anlagen in ganz Europa – betrieben von einem Aargauer Anbieter, der bereits an zwei Standorten aktiv ist. Die Nachfrage scheint also zu stimmen.

Ein Anbieter im Kanton Zug ist Elite Guard in Hünenberg. Das Bildungszentrum für Sicherheitsberufe bietet neben umfangreichen Weiterbildungsmöglichkeiten auch Schnupper- und Grundkurse für NeueinsteigerInnen. Der Boom habe bei ihnen bereits im Frühjahr 2020, also in der ersten Pandemiephase, eingesetzt, und halte bis heute an, erzählt Geschäftsführer Kosmas Mutter. «Damals konnten wir die Anlage nur für private Veranstaltungen vermieten und unsere KundInnen haben das Angebot in den folgenden Monaten schätzen gelernt», so Mutter.

Schiessstand Pistole

Pistolentraining in der Schiesshalle. Bild: Narin_Photo / Depositphotos

 

Anfangs nur aus Spass beim Schützensport, spielte laut Mutter ab Mitte 2021 in der Hünenberger Anlage auch vermehrt der Sicherheitsgedanke eine Rolle. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dürfte diese Verunsicherung noch einmal verschärft haben. Bei den ersten Schiessübungen wird dabei auf einfache Faustfeuerwaffen gesetzt – sprich Pistolen. Die geübten Schützen und Schützinnen setzen dagegen auf ihre eigenen Waffen in allen Variationen.

Mehr Waffen für mehr Sicherheit?

In Krisenzeiten greifen die SchweizerInnen also vermehrt zur Waffe. Denn natürlich bleibt es nicht bei dem Waffenerwerbsschein, auch die Anzahl der verkauften Schusswaffen stieg in diesem Jahr. Dazu zählen auch zahlreiche ErsterwerberInnen, die bisher noch keine Waffe besassen. Dass mehr Waffen auch tatsächlich zu mehr Sicherheit führen, darf derweil bezweifelt werden. Einerseits sieht man es an der sinkenden Anzahl der Tötungsdelikte in der Schweiz, die einhergeht mit der gesunkenen Anzahl der Besitzwaffen. Auf der anderen Seite wurde zu diesem Thema viel und mit teils eindeutigen Ergebnissen geforscht.

In den USA hat das FBI zusammen mit der Texas State University eine Studie veröffentlicht, in der 160 Massenschiessereien zwischen 2000 und 2013 untersucht wurden. Das Resultat zeigt, dass in mehr als der Hälfte der Fälle der meist männliche Täter bereits geflohen oder tot war, als die Einsatzkräfte ihn erreicht hatten. In der US-amerikanischen Realität ist ein bewaffneter Alltagsheld also eine Rarität.

Vom deutlich strengeren Schweizer Recht für Notwehr einmal abgesehen, rät man auch bei einem grossen hiesigen Waffenanbieter kategorisch von dem Waffenerwerb zur Selbstverteidigung ab – damit der Kunde am Ende nicht vom Opfer zum Täter wird.

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