Leben mit Multipler Sklerose: zwei Betroffene erzählen

Leben mit der «Krankheit der 1000 Gesichter»

Rund jede/r 560. SchweizerIn leidet an Multipler Sklerose. Das tückische an der Krankheit ist, dass sie nicht sichtbar ist und die Symptome sehr unterschiedlich sein können. Wir haben mit zwei Betroffenen über ihr Leben mit dieser unheilbaren Krankheit gesprochen.

Rund 15’000 Schweizerinnen und Schweizer leiden an Multipler Sklerose (MS). Bei 80 Prozent der Erkrankten zeigen sich die ersten Symptome im Alter von 20 bis 40 Jahren. MS ist damit die häufigste neurologische Krankheit, die in diesem Lebensabschnitt diagnostiziert wird.

Trotzdem wissen viele Menschen nur wenig über die «Krankheit der 1000 Gesichter», wie sie auch genannt wird. Dies liegt daran, dass MS grundsätzlich nicht sichtbar ist und die Symptome sehr unterschiedlich sein können – sowohl von Person zu Person als auch bei derselben Person je nach Dauer und Schweregrad der Erkrankung sowie Tagesform.

MS ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung und betrifft das zentrale Nervensystem. Die genaue Ursache von MS ist trotz intensiver Forschung nach wie vor nicht bekannt. Weiterhin wird ein Zusammenspiel von genetischer Veranlagung und Einfluss durch Umweltfaktoren diskutiert. Die Störungen betreffen verschiedene Körperfunktionen und können zum Beispiel Seh- und Gleichgewichtsstörungen sowie Lähmungen an Beinen, Armen und Händen hervorrufen. Viele MS-Betroffene leiden zusätzlich unter grosser Müdigkeit und Konzentrationsschwächen. Die heute existierenden Therapieangebote können den Verlauf der Krankheit nur mildern.

Wir haben mit zwei MS-Betroffenen über ihre Erfahrungen gesprochen und warum sie sich dazu entschieden haben, offen über ihre Krankheit zu sprechen.

Marisa Membrini, wann haben Sie die Diagnose MS erhalten und wie haben Sie darauf reagiert?

Ich habe die Diagnose MS vor einem Jahr während des ersten Lockdowns erhalten. Wegen eines eingeschlafenen Beins und fehlendem Schmerz- und Temperaturempfinden ging ich am Ostersonntag zum Hausarzt. Dieser verordnete ein MRI und nach Auffälligkeiten auf den MRI-Bildern ging es völlig unerwartet direkt ins Spital für weitere Untersuche und fünf Tage Aufenthalt mit hochdosiertem Cortison. Die paar Tage alleine im Spital, ohne die Möglichkeit, Besuch zu empfangen, waren nebst der Ungewissheit mit das Schwierigste für mich. Eine Woche nachdem ich das Spital verlassen durfte, habe ich dann die definitive Diagnose MS erhalten. Sowohl für mich als auch für mein Umfeld kam diese sehr unerwartet, da ich davor keinerlei Anzeichen hatte. Auch heute noch gibt es diese kleinen Momente, in denen es mir vorkommt, als wäre es unwahr.

Sie haben sich für einen offenen Umgang mit Ihrer Krankheit entschieden. Unter anderem halten Sie Ihre Mitmenschen in den sozialen Medien auf dem Laufenden, wie es Ihnen geht. Weshalb?

Ich wollte kein Geheimnis daraus machen und dazu beitragen, dass die Menschen besser über MS Bescheid wissen. Es gibt viele junge Menschen da draussen, denen man diese Krankheit nicht ansieht. So kann ich das Verständnis für MS hoffentlich etwas fördern. Ausserdem kann ich die Krankheit selbst besser annehmen und lerne damit umzugehen, wenn ich offen darüber spreche.

Wie haben Ihre Mitmenschen reagiert, als sie von Ihrer Krankheit erfahren haben?

Natürlich hat es sie getroffen und jeder machte es ein Stück weit selbst mit sich aus, wie er mit der neuen Situation umgeht. Es werden auch alle aus dem Umfeld ein bisschen mit einem mitkrank. Mir ist jedoch wichtig, dass ich nicht nur diese Krankheit bin, nicht darauf reduziert werde. Ich bin immer noch ich und ich weiss, ich bin viel mehr als diese Krankheit. Ich habe auch realisieren müssen, dass sich vieles im Zusammenhang mit MS im mentalen Bereich abspielt, da die Krankheit wenig Konstanz mit sich bringt. Oftmals folgt nach zwei Schritten vorwärts einer zurück.  Das ist nebst den körperlichen Beschwerden eine grosse Herausforderung.

Gibt es trotz Ihrer Offenheit Tabuthemen im Zusammenhang mit MS?

Bis jetzt auf jeden Fall nicht, ich bin grundsätzlich ein sehr offener Mensch. Über die Option, in ein paar Jahren körperlich stark eingeschränkt und sogar auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein, meinen Alltag nicht mehr bewältigen zu können – darüber spreche ich aus einem anderen Grund nicht so gerne. Ich spüre dann, wie es mich und vor allem meine Mitmenschen traurig macht und es schlussendlich auch niemandem etwas bringt. Keiner weiss, wie die MS bei mir verläuft und ich bin überzeugt, dass eine positive Denkweise diesbezüglich ganz wichtig und wertvoll ist.

In welchen Bereichen sollte bezüglich MS Ihrer Meinung nach noch stärker aufgeklärt werden, damit mögliche Tabuthemen im Zusammenhang mit MS keine mehr sind und allfällige Vorurteile abgebaut werden können?

Der Krankheitsverlauf und die Symptome können bei MS sehr unterschiedlich sein. Doch haben viele Menschen nur ein typisches Bild einer MS-betroffenen Person im Kopf: Meist ist das eine Frau mittleren Alters im Rollstuhl. Dies zeigt, wie wichtig es für das Bewusstsein der Menschen wäre, offen darüber zu sprechen. Gerade weil die Krankheit nicht sichtbar ist. Es gibt ganz viele junge Betroffene, denen man oft nichts ansieht. Ich muss jedoch auch betonen, dass die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft diesbezüglich sehr wertvolle Arbeit leistet.

Sie haben es angesprochen: MS ist eine Krankheit, bei der die Symptome sehr unterschiedlich sein können. Welche machen Ihnen zu schaffen?

Die Fatigue, sprich enorme Erschöpfung und Müdigkeit, macht sich teilweise stark bemerkbar. Dann bin ich absolut nicht leistungsfähig. Manchmal habe ich zudem starke Schmerzen oder ein Kribbeln in den Beinen. Ich spüre auch, dass ich kognitiv nicht mehr gleich leistungsfähig bin: Die Konzentration ist nicht mehr gleich gut, ausserdem brauche ich mehr Erholung und Schlaf. Dies bringt wiederum mit sich, dass ich meine Tage besser planen muss. Mein Umfeld hat jedoch vollstes Verständnis dafür. Meine anfänglichen Hemmungen, etwas zu verschieben weil ich nicht mehr mag, waren völlig unbegründet.

Wie stark schränkt Sie MS bei Ihrer Arbeit ein?

Ich habe das Glück, im familieneigenen Betrieb tätig zu sein. Dies nach wie vor fast in einem 100-Prozent-Pensum. Bei Bedarf kann ich mich jedoch etwas zurücknehmen. Dafür bin ich sehr dankbar. Als wir unser Geschäft nach dem Lockdown wieder öffnen konnten, war dies sehr wichtig für mich: Ich musste im Alltag wieder funktionieren und konnte so auf andere Gedanken kommen.

Besuchen Sie aktuell medizinische Therapien zur Behandlung Ihrer Krankheit?

Ich gehe alle drei Wochen zur Akupunktur und seit Anfang Jahr wöchentlich zur Physiotherapie. Dadurch können die Muskeln im Bein wieder gelockert und die Fehlhaltung durch das eingeschlafene Bein korrigiert werden. Obwohl das Gefühl im Bein nicht wieder ganz zurückgekehrt ist, bereitet mir das Gehen zum Glück keine Mühe. Seit gut einem Monat mache ich zudem eine Basistherapie mit Medikamenten.


 

Simon Lüthi, wann und wie haben Sie die Diagnose MS erhalten?

Begonnen hat es während den Sommerferien 2006. Ich trieb zu dieser Zeit viel Sport und begann beim Joggen plötzlich, mein Bein nachzuziehen. Zu Anfang schenkte ich dem nicht gross Beachtung. Als ich während den Wettkämpfen jedoch begann, mehrmals zu stolpern, suchte ich meinen Arzt auf. Die Diagnose MS erhielt ich dann im Spätherbst desselben Jahres.

Wie haben Sie und Ihr Umfeld auf die Diagnose reagiert?

Auf der einen Seite war es ein Schock für mich. Auf der anderen Seite dachte ich, so schlimm könne es nun auch wieder nicht sein – ich kannte die Krankheit damals noch gar nicht recht und wusste nicht, was auf mich zukommt. Meine erste Befürchtung war, dass ich nicht mehr werde joggen und auf Fahrradtouren gehen können. Mein Umfeld reagierte sehr gut und verständnisvoll. Meine Mitmenschen waren äusserst hilfsbereit und ich bekam Tipps und Unterstützung. Ausserdem fiel mir auf, dass fast alle gleich auf meine Diagnose reagierten: Sie kannten jemanden aus ihrem Umfeld, der ebenfalls an MS leidet.

War dies auch ein Grund, offen mit Ihrer Krankheit umzugehen?

Absolut. Klar: Zu Beginn musste ich die Diagnose für mich verarbeiten. Aber sonst gehe ich möglichst offen damit um. Ich habe nichts zu verstecken und es erleichtert vieles. So erhalte ich im Austausch mit anderen immer wieder wertvolle Tipps. Ich möchte alle direkt und indirekt von MS Betroffenen ermutigen, sich Unterstützung und Hilfe zu holen. Sei dies von der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft, dem Hausarzt oder nur schon, im Bus nach einem Sitzplatz zu fragen.

Welche Erfahrungen haben Sie am Arbeitsplatz gemacht, als Sie Ihre Krankheit kommuniziert haben?

Ich war davor in der Spielwarenbranche, arbeitete 13 Jahre im selben Betrieb und war dort in einer Führungsposition. Wie es der Zufall wollte, bewarb ich mich just woanders, als ich die Diagnose erhielt. Mein neuer Vorgesetzter zeigte jedoch grosses Verständnis und stellte mich trotz meiner Krankheit ein. Dies ging auch zehn Jahre lang gut, dann verschlechterte sich mein Zustand, irgendwann war auch meine Hirnleistung davon betroffen. Ich konnte nicht mehr mehrere Dinge gleichzeitig machen, musste meine volle Aufmerksamkeit einer Aufgabe widmen und wurde auch langsamer. Aktuell bilden die Müdigkeit und die Vergesslichkeit die Hauptsymptome.

Was bedeutete dies? In welchem Umfang können Sie aktuell einer Arbeit nachgehen?

Irgendwann wurde eine berufliche Neuorientierung nötig. Nach 23 Jahren in der Spielwarenbranche war dies für mich zu Beginn enorm schmerzhaft. Nun arbeite ich im geschützten Rahmen für eine Stiftung. Für eine gesunde Person entspräche es einem 25-Prozent-Pensum. Für mich ist es jedoch mehr, da ich täglich mindestens drei 20-minütige Pausen brauche. Ich bin sehr glücklich darüber, weiterhin einer Tätigkeit nachgehen zu können. Ich kann meinen Teil beitragen und geniesse die sozialen Kontakte. Ich bin mir sicher, dass es vielen Leuten, die wegen einer Krankheit nur noch reduziert arbeiten können, helfen würde, einer Arbeit nachgehen zu können. Auch die Betriebe und die Gesellschaft würden davon profitieren. Leider gibt es aktuell noch zu wenige solche Arbeitsplätze.

Besuchen Sie aktuell medizinische Therapien zur Behandlung von MS?

Ja, einerseits erhalte ich Infusionen, die dabei helfen, die Stärke und Anzahl der Schübe zu reduzieren. Ausserdem gehe ich in die Physio- und Ergotherapie und nehme einmal im Monat psychologische Hilfe in Anspruch.

Wo gibt es Ihrer Meinung nach noch Luft nach oben was das Verständnis der Gesellschaft für MS und an MS erkrankte Menschen angeht?

Vieles geht über die Kommunikation. Bevor man ein Urteil fällt, sollte man die Person lieber ansprechen, wenn sie ein «unübliches» Verhalten zeigt. So wurde ich an der Tour de Suisse beispielsweise für stockbesoffen gehalten, als ich aus Erschöpfung an die Bande anlehnte (lacht).

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