«Ich fühlte mich nie bedroht»

Interview mit dem Arzt Josef Sachs, Psychiater und Forensiker

Josef Sachs (67) ist der bekannteste Gerichtspsychiater der Schweiz. Als Gerichtspsychiater und Forensiker arbeitet er mit psychisch kranken Straftätern. Sachs baute die Forensische Psychiatrie in Königsfelden auf und leitete diese als Chefarzt. Bis zu seiner Pensionierung 2018 hat er mehrere Tausend Gutachten geschrieben. Heute führt er in Brugg eine eigene Praxis. Josef Sachs ist Autor von mehreren Büchern und Fachpublikationen.

 

Interview mit Dr. Josef Sachs, Psychiater und Forensiker

Josef Sachs, Sie führen seit Ihrer Pensionierung eine Praxis für forensische Psychiatrie in Brugg im Kanton Aargau. Ihre Praxis ist auch ein Gesundheitszentrum. Was darf man darunter verstehen?

Das Gesundheitszentrum Brugg ist eine Interessensgemeinschaft von über 50 Organisationen, welche verschiedene medizinische Dienstleistungen angeboten werden. In diesem befindet sich auch meine Praxis.

 

Sie arbeiten mit Straftätern, Mördern, Kriminellen. Sie schöpfen aus einer reichen Erfahrung. Wie gefährlich ist Ihr Beruf wirklich?

In den fast 30 Jahren, in denen ich meinen Beruf ausübte, fühlte ich mich nie ernsthaft an Leib und Leben bedroht. Natürlich gab es immer wieder Grenzüberschreitungen und bedrohliches Verhalten von Patienten. Dieses konnte aber fast immer entschärft werden. Schwieriger finde ich den Umgang mit der Verantwortung, die ich in meinem Beruf trage. Jeder Fall muss so neutral und objektiv wie möglich beurteilt werden, ich muss alle Aspekte berücksichtigen und darf keine wichtigen Informationen ausser Acht lassen.

 

Bei Schülern und Jugendlichen soll die Gewaltbereitschaft zugenommen haben. Was unterscheidet erwachsene Straftäter von minderjährigen Straftätern?

Das Verhalten jugendlicher Straftäter ist weniger fixiert, sie sind beeinflussbarer. Dies macht es schwieriger, eine gültige Prognose für das Rückfallrisiko zu stellen. Die Umgebung – Familie, Schule, Kollegen, Freunde – spielen eine wichtige Rolle und müssen bei der Beurteilung und in der Therapie berücksichtig werden.

Von einer generellen massiven Zunahme der Gewaltbereitschaft von Schülern würde ich nicht sprechen. Sie nahm in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder wellenförmig zu und ab.  Zu beobachten ist aber ein Auseinanderdriften der Gesellschaft, das Auswirkungen auf die Jugendlichen hat. Ein Teil der Jugendlichen ist ausgesprochen friedfertig und lehnt auch geringfügige aggressive Handlungen ab. Ein anderer Teil verhält sich umso ungehemmter, schlägt scheinbar ohne Grund auf Wehrlose, auch auf Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung zu. Zugenommen hat ausserdem die Gewalt gegen Autoritätspersonen, zum Beispiel Polizistinnen und Polizisten.

 

Sie sagen, dass jeder Mensch Gewaltbereitschaft zeigen kann. Woran erkennt man dann rechtzeitig, wenn es gefährlich werden könnte?

Das ist schwierig und leider nicht immer möglich. Hellhörig werden muss man, wenn Menschen über längere Zeit ein zunehmendes bedrohliches Verhalten an den Tag legen, sich sozial zurückziehen, gewaltsame Problemlösungen als gerechtfertigt bezeichnen, Probleme nicht mehr sozial verträglich lösen können, nicht mehr in Alternativen denken können, sich intensiv für  Gewalttäter oder Amokläufer interessieren und ein Interesse für Waffen entwickeln, das keinen Zusammenhang mit Beruf und Hobbys hat.

 

Unter dem Titel «Gehört Gewalt zum Menschen?» halten Sie Referate. Leben wir (das Gros) der Menschen noch angstfrei?

Kein Mensch lebt völlig angstfrei. Es gibt weder eine angstfreie noch eine suchtfreie noch eine gewaltfreie Gesellschaft. Oft ist die Angst aber grösser als die Gefahr. Das hängt damit zusammen, dass wir das Risiko an schlimmen Einzelereignissen, zum Beispiel Amokläufen messen, auch wenn diese äusserst selten sind. Es liegt deshalb unter anderem in der Verantwortung der Medien, solche Einzelereignisse nicht übertrieben reisserisch darzustellen, sondern möglichst objektiv zu informieren. Rational gibt es keinen Grund, heute mehr Angst zu haben als vor 10 oder 20 Jahren.

 

Eine informierte Gesellschaft kann sich besser schützen. Brauchen wir mehr Aufklärung?

Das ist richtig, denn letztlich ist jeder Mensch selbst für seine Sicherheit verantwortlich. Die Aufklärung darf aber nicht zu einem übertriebenen Sicherheitsdenken führen, denn eine Null-Risiko-Gesellschaft wird es auch mit den aufwändigsten Massnahmen nicht geben. Besonders wichtig aber scheint mit die Gewaltprävention, die bereits im Kindergartenalter beginnen muss. Kinder müssen schon früh lernen, Konflikte auf eine sozial verträgliche Art zu lösen.

 

Sind Sie Menschen gegenüber vorsichtig(er)?

Ich jedenfalls bin nicht vorsichtiger geworden. Meiner Ansicht nach braucht es für die Bewältigung des Alltags vor allem gesunden Menschenverstand und nicht forensisches Fachwissen. Die Erfahrungen aus der Gerichtspsychiatrie beziehen sich glücklicherweise auf eine kleine Minderheit der Menschheit. Es wäre falsch, das tägliche Leben danach auszurichten.

 

Welche Fälle bringen Sie an die Grenzen?

Es sind vor allem die Fälle, in denen es sehr viele Beteiligte gibt, die völlig unterschiedliche, ja widersprüchliche Aussagen machen. Das ist bei Jugendlichen besonders oft der Fall. Wenn man die Berichte der Eltern, dann der Lehrpersonen, der Psychologen und der Polizei über einen Jugendlichen miteinander vergleicht, hat man gelegentlich den Eindruck, alle sprechen von verschiedenen Personen.

 

Welches ist Ihr neustes Buch?

Das letzte eigene Buch ist ein Nachschlagewerk über forensische Begriffe. Darin können Sie zum Beispiel nachlesen, was man unter Narzissmus, Pädophilie, Borderline oder Gewaltkriminalität versteht: Sachs J., Barp M. Forensiklexikon. Stämpfli Verlag Bern. 2018. Zurzeit plane ich ein (weiteres) Buch über Drohungen.

 

Porträt Josef Sachs

Josef Sachs studierte an der Universität Zürich Medizin. Er promovierte 1980 auf dem Gebiet der Schlafforschung. Sachs wurde Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Ab 1990 baute er die Forensische Psychiatrie in Königsfelden auf und leitete diese als Chefarzt bis im August 2015. Er war Gründungspräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Forensische Psychiatrie und Autor von mehreren Büchern und Fachpublikationen. Seit Oktober 2015 führt er in Brugg eine Praxis für Forensische Psychiatrie. Er ist Autor mehrerer Bücher.

 

Einen Kommentar hinterlassen