Stolpern gegen das Vergessen

Kunstprojekt in Zürich erinnert an die Opfer des Holocausts

Mit dem Kunstprojekt Stolpersteine soll an die Opfer des Holocausts erinnert werden. Nun sind diese auch in Zürich angekommen, wo inzwischen elf Steine gegen das Vergessen verlegt wurden. Verantwortlich dafür ist der neugegründete Verein Stolpersteine Schweiz. Wir haben mit Mitgründer Roman Rosenstein über die Aufklärarbeit in der Schweiz gesprochen.

Léa Berr, Clausiusstrasse 39, Albert Mülli, Gamperstrasse 7, Jula Rothschildt, Stampfenbachstrasse 75. Ein kleiner Quader im Boden erinnert an jeden einzelnen Menschen und sein Schicksal. Die Stolpersteine wurden 1992 als Kunstprojekt ins Leben gerufen, um an die Opfer des deutschen Nationalsozialismus zu gedenken. Heute gibt es bereits über 80’000 der kleinen Gedenktafeln in ganz Europa. Seit dem 27. November findet man sie auch an verschiedenen Orten in Zürich. Verantwortlich dafür, dass das Projekt endlich auch in der Schweiz Beachtung findet, ist der Verein Stolpersteine Schweiz.

Zwar wurden bereits 2013 die ersten beiden Schweizer Stolpersteine in Kreuzlingen (TG) verlegt, es folgte aber nur ein weiterer im Nachbarort Tägerwilen. Mit der Gründung des Vereins Stolpersteine Schweiz im Februar 2020 ist das Kunstprojekt erst jetzt hierzulande wirklich angekommen. Während man noch weiter auf eine nationale Gedenkstätte für die Schweizer Holocaustopfer wartet, kann «mit dem Setzen von Stolpersteinen kurzfristiger und individueller dieser Opfer gedacht werden», erklärt Roman Rosenstein, Mitgründer des Vereins. Dabei geht es nicht nur um die jüdischen Opfer. Auch politisch Verfolgte, Sinti und Roma, Homosexuelle und Opfer der deutschen Euthanasiemorde finden sich auf den Gedenksteinen wieder.

Vergessene Opfer des Dritten Reichs

Aufmerksam auf die Verbindung der Schweiz zum Holocaust wurde Rosenstein 2019 durch das Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge: Vergessene Opfer des Dritten Reichs», welches Portraits von Schweizer KZ-Häftlingen enthält. Nach seiner Gründung zählt der Verein heute bereits 140 Mitgliederinnen und Mitglieder, erzählt Rosenstein. Die ersten Steinverlegungen im November und eine dazugehörige Veranstaltung im Zürcher Rathaus hatten ein grosses mediales Echo ausgelöst. «Wir bekommen immer wieder Gratulationen, dass wir die Initiative ergriffen haben und dass wir uns für weitere Stolpersteine in der Schweiz einsetzen», sagt Rosenstein.

Stolpersteine in der Clausiusstrasse in Zürich

Die Clausiusstrasse führt direkt zur ETH. Bild: sma

Man wolle die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in die Schulen bringen und darüber reden, «dass die Behörden eine gewisse Mitschuld am Tod dieser Schweizer KZ-Opfer tragen», nennt Rosenstein eines der Ziele des Vereins. So wurden zum Beispiel Frauen ausgebürgert, wenn sie einen Ausländer geheiratet haben. Solche Menschen wie Léa Berr durften dann keine Hilfe mehr vom Schweizer Staat erwarten. «Das ist ein schwarzer Fleck in der Schweizer Geschichte, über den sehr selten gesprochen wird», sagt Rosenstein. Heute erinnern in der Clausiusstrasse 39 zwei Stolpersteine an Berr und ihren Sohn Alain. Meist befinden sich die Steine an dem letzten freigewählten Wohnort der Personen.

Das grösste dezentrale Mahnmal der Welt

Das Projekt Stolpersteine stammt ursprünglich vom deutschen Künstler Gunter Demnig. Er und sein Team stellen die Steine mit den Messingtafeln alle selbst her und versuchen bei jeder Verlegung dabei zu sein. Nur in der Schweiz hat es aufgrund der Coronapandemie bisher noch nicht geklappt. Heute bilden die Steine das grösste dezentrale Mahnmal der Welt. Auf der Homepage des Schweizer Vereins kann man Vorschläge für neue Steinlegungen einreichen. So gibt es bereits einen Vorschlag aus Chur, dem Tessin und aus dem Raum Bern. In Basel und Genf sind derweil bereits konkrete Steinsetzungen geplant. Ausserdem «melden sich Menschen als Freiwillige, um Steinsetzungen zu organisieren», sagt Rosenstein.

Zu jeder Steinsetzung gehören auch Nachforschungen zu den Opfern. Die Wohnorte und persönlichen Umstände der Deportierung gehören ebenso dazu wie die Suche nach Nachkommen und Verwandten. «Bisher haben wir für jede Stolpersteinverlegung Verwandte gefunden, die dann anwesend waren», erzählt Rosenstein. Und das, obwohl der Krieg vor über 76 Jahren endete. Die Recherchen des Vereins können dabei auch zu einer Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte bei den Überlebenden führen, wenn Erinnerungsfotos und alte Geschichten wieder an die Oberfläche kommen.

Die Stampfenbachstrasse 75 in Zürich.

Die Stampfenbachstrasse 75 in Zürich. Bild: sma

Wenn Roman Rosenstein einen Stolperstein in einer Stadt entdeckt, schaut er immer, in welchem Zustand er ist und erzählt in seinem Umfeld von der Geschichte des Opfers. Im Alltag fallen die Steine nicht sofort ins Auge. «Man muss sich schon bücken und achtsam sein, um einen Stolperstein zu erkennen. Ich denke schon, dass es etwas auslöst, wenn die Leute einen Stolperstein entdecken. Es werden Fragen gestellt, das merken wir anhand der Zuschriften an den Verein», so Rosenstein.

Patenschaften und Gedenkstätten

Um die Steine sichtbar zu halten, brauchen sie eine gewisse Pflege. Dafür vergibt der Verein Patenschaften, die neben der physischen Pflege auch Gedenkanlässe enthalten. In Deutschland und Europa gibt es zudem spezielle Anlässe wie den 9. November (Reichskristallnacht 1938), oder den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts am 27. Januar, an denen die Messingtafeln von Freiwilligen gesäubert werden.

Stolpersteine in Zürich

Auf den ersten Blick unscheinbar, aber mitten in der Stadt. Bild: sma

Nicht nur bei den Stolpersteinen geht es voran, auch in Sachen nationale Gedenkstätte tut sich etwas. So haben Mitglieder des National- und Ständerats Motionen unterzeichnet, die den Bundesrat zur Schaffung eines offiziellen Schweizer Gedenkorts für die Opfer des Nationalsozialismus auffordert. Ausserdem ist an einer Grenzstation eine Stolperschwelle für die Menschen geplant, die von der Schweiz zurückgewiesen wurden.

Zum Schluss noch die Schicksale der eingangs erwähnten ZürcherInnen: Léa Berr wurde am 1. Februar 1945 in Auschwitz ermordet, Jula Rothschildt bereits 1942 ebendort und Albert Mülli wurde am 29. April 1945 in Dachau von der US-Armee befreit. «Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist», heisst es in der Tora. In Zürich kann man ihre Namen und Geschichten lesen, wenn man nur kurz innehält.

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