FÜNF TAGE OFFLINE

Ein Selbstversuch

Die Regeln sind einfach: Fünf Tage Verzicht auf die Vorzüge des digitalen Zeitalters. Also Stecker raus und Smartphone weg! Wie fühlt es sich an, wenn man sich ganz analog durch ein digitalisiertes Zürich bewegen muss?
Der erste Tag offline
Der Wecker klingelt. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und stehe schlaftrunken auf. Wie jeden Morgen führt mich mein Weg zuerst in die Küche, wo ich die Kaffeemaschine anmache, dann geht’s unter die Dusche. An jedem normalen Tag würde ich mich anschliessend mit einer Tasse heissen Kaffee vor mein Notebook setzen und durch die einschlägigen News-Seiten surfen. Nicht so an diesem Morgen. In weiser Voraussicht habe ich gestern nämlich noch eine Notiz an mein Notebook geklebt, die mir jetzt in grossen Buchstaben hämisch zuruft: «Finger weg!» Jeder Morgenmuffel weiss: Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als wenn der Tag mit einer Störung des üblichen Morgenrituals beginnt. Entsprechend miesepetrig suche ich nach einer Alternative. Eine aktuelle Tageszeitung liegt nicht griffbereit, weswegen ich nach Wolfgang Reinhards «Die Unterwerfung der Welt» greife – einem 1600 Seiten schweren Geschichtsschmöker, der sich, wie ich schnell merke, nicht für den Einstieg in den Tag eignet. Anschliessend steht bei mir eine Weiterbildung auf dem Programm. Während andere mit ihren Laptops Platz nehmen, krame ich Kugelschreiber und Notizheft aus der Tasche.
Im Verlauf des Tages konsumiere ich passiv eine kleine Dosis Internet, weil der Kursleiter für seine Präsentation auf ein Youtube-Video zurückgreift. Gegen Mittag macht sich in mir eine gewisse Unruhe bemerkbar. Umgeben von Smartphones und Computern spüre ich das Bedürfnis, kurz das Postfach meines E-Mail-Kontos zu checken. Ich bleibe hart. Erst gegen Abend setzt sich wieder der kleine Online-Teufel auf meine Schulter und bezirzt mich, es mir vor dem Computer gemütlich zu machen. Ich verscheuche ihn und zappe seit langem mal wieder durchs abendliche Fernsehprogramm und stelle ernüchtert fest, wie toll es doch ist, wenn man sich sein Unterhaltungsprogramm à la carte im Internet nach den eigenen Vorlieben zusammenstellen kann. Youtube, Netflix und Co. sei dank. Das Fernsehprogramm ist so unerträglich, dass ich mich lieber wieder meinem Geschichtsschmöker widme.

Analoge Komplikationen
Am Morgen des zweiten Tages zittern weder meine Hände, noch plagen mich unwillkürliche Krämpfe oder sonstige Entzugserscheinungen. Im Gegenteil: Ich fühle mich ausserordentlich frisch und habe eine ruhige Nacht ganz ohne wirre Träume hinter mir. Und doch tauchen alsbald Komplikationen auf. Freitagabend verabrede ich mich mit Peter, einem alten Kollegen. Pünktlich wie eine Uhr treffe ich am verabredeten Treffpunkt beim Schanzengraben auf Höhe des City-Hallenbads vor der Rimini-Bar ein. Weit und breit keine Spur von Peter. Die Minuten verstreichen und ich werde langsam unruhig. Normalerweise hätte ich mein Smartphone zur Hand und würde ihn kurz anrufen oder ihm eine SMS schreiben. Doch gerade jetzt liegt es ausgeschaltet zu Hause bei mir auf dem Schreibtisch. Ich gehe den Schanzengraben Richtung Hauptbahnhof entlang und schaue mich um. Kein Peter. Inzwischen sind zwanzig Minuten verstrichen. Nach zehn weiteren Minuten gebe ich auf und fahre mit dem nächsten Tram nach Hause, von wo aus ich ihn anrufe. Es stellt sich heraus, dass er die ganze Zeit auf der anderen Seite der Rimini-Bar gewartet hat. Na bravo!
Am Samstagmorgen bittet mich mein Vater am Telefon, für ihn eine Zugverbindung von Uster nach Sursee rauszusuchen. Natürlich habe ich keine entsprechenden Fahrpläne zuhause und stelle mich deshalb wenig später am Hauptbahnhof in die Schlange vor dem Informationsschalter. Und Samstagmittag ist die Schlange lang, zumindest für jemanden, der sich gewohnt ist, Zugverbindungen in Sekundenschnelle per App zu suchen. Um die erhaltene Verbindung schliesslich meinem Vater mitzuteilen, muss ich erst wieder mit dem Tram nach Hause fahren, von wo aus ich ihn anrufen kann. Gesagt, getan. Ich erkläre meinem Vater, wie und wann er nach Sursee kommt. Er denkt einen Augenblick lang nach, dann fragt er: «Könnte ich nicht auch anstatt über Zürich-Olten über Rapperswil-Luzern oder Zürich-Luzern fahren? Dauert das viel länger?» Das sind eine Menge Fragen für jemanden, der kein Internet benutzen darf. Schliesslich strecke ich die Waffen und entscheide mich für den einfachen Weg. Ich sage meinem Vater, er soll sich an meine Schwester wenden.
Kleinere Komplikationen, welche einem bewusst machen, wie bequem man durch den ständigen Zugriff aufs Internet geworden ist, tauchen im weiteren Verlauf noch ein paar mal auf. Am Montag beispielsweise irre ich einige Minuten lang auf der Suche nach einer Adresse durch ein Stadtquartier und bringe zwei Passanten in Verlegenheit, die mir auch nicht weiterhelfen können, anstatt mich ganz einfach vom mächtigen Google-Konzern bei der Hand nehmen und an mein Ziel führen zu lassen.

Was mich aber wirklich schier zur Weissglut bringt, ist eine eigentliche Nichtigkeit sonntagabends. Wahrscheinlich kennt das jeder: im Gespräch mit jemand anderem oder beim Grübeln ganz allein taucht eine Frage auf. Eine Art Leerstelle im Gedankengang. Manchmal ist einem der Name von etwas (der Hauptstadt eines Landes, einer Pflanze oder eines Politikers) oder irgendein bestimmter Begriff entfallen. Die Frage krallt sich an einem fest und lässt einen nicht mehr los. Sie ist wie eine Stelle am Körper, die wie verrückt juckt, an die man aber nicht rankommt, um sich zu kratzen. Genau so eine Frage blinkt sonntagabends plötzlich vor meinem geistigen Auge auf und treibt mich fast in den Wahnsinn. Sie folgt mir ins Bett, wo ich sie im Kopf noch minutenlang hin und her wälze, anstatt sie mir mit ein paar Mausklicks vom Internet beantworten zu lassen. Heute kann ich mich nicht einmal mehr an die Frage erinnern, so unwichtig muss sie gewesen sein.

Digitale Bequemlichkeit
Dienstagmorgen klicke ich vom Gefühl der Erleichterung durchströmt auf den Login-Button meines E-Mail-Servers. Vielleicht ist das ein wenig übertrieben, aber es war schon eine gewisse Befreiung, meinen Posteingang kontrollieren zu dürfen. Ernüchtert stellte ich allerdings gleich darauf fest, dass kein einziges wichtiges E-Mail eingegangen war. Aber betrifft das nicht einen Grossteil von dem, was ich im Internet mache? Ist nicht das meiste unwichtig, ja sogar sinnlos? Es gibt diese ungemein starke Sogwirkung des Internets. Es lockt einen mit seiner riesigen Auswahl von Angeboten an und ganz schnell findet man sich dabei wieder, wie man vom einen Youtube-Clip zum nächsten, von der einen Meldung zur anderen klickt, und auf einmal sind zwei Stunden vergangen. Aber etwas Bleibendes ist kaum hängen geblieben.
Obwohl ich weder twittere, noch einen Blog führe und auch mein Facebookprofil höchst sporadisch besuche, haben mir diese fünf Tage gezeigt, wie sehr ich mich im Alltag daran gewöhnt habe, ständig Zugriff aufs Internet, seine Informationen und Dienstleistungen zu haben und wie bequem ich dadurch geworden bin. Pascal Gut

Dieser Artikel wurde entnommen aus der Zeitschrift „Konsumer / Das Schweizer Konsumentenmagazin“, Ausgabe Januar 2017, Seiten 10-12. Autor: Pascal Gut

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