Der Winter steht vor der Tür und damit auch das Thema Energiesparen. Angesichts der derzeitigen und zukünftigen Krisen könnte das Thema Verzicht nicht nur dabei eine grössere Rolle spielen als vielen in unserer Konsumgesellschaft lieb ist.
Schon seit einigen Jahren findet im Mai der Swiss Overshoot Day statt. Also der Tag, an dem die Schweiz, gemessen an ihrer Grösse, die Ressourcen der Erde für ein Jahr verbraucht hat. Würde die gesamte Weltbevölkerung so leben wie Herr und Frau Schweizer, dann bräuchten wir 2,8 Planeten Erde. Wir erzeugen mehr CO2 als die Natur absorbieren kann, verbauen mehr Holz als nachwächst und konsumieren mehr Nahrung als hierzulande produziert wird. Wäre die Schweiz ein Bauernhof, so müssten wir uns dieses Jahr seit dem 13. Mai bei unseren Nachbarn bedienen.
Nun ist die Schweiz mit ihrem Überkonsum nicht allein auf der Welt. So befinden sich die meisten Industrienationen über dem Durchschnittswert aller Länder. Angeführt vom Spitzenreiter USA, sorgen die Industrieländer dafür, dass auch global gesehen die natürlichen Ressourcen in diesem Jahr bereits am 28. Juli verbraucht gewesen wären.
In einem System, das ewiges Wachstum predigt und in dem Konsum ausdrücklich erwünscht ist, scheint es geradezu absurd, freiwillig auf bestimmte Vorzüge zu verzichten. In den letzten knapp drei Jahren hat das Thema Verzicht aber auch in der Schweiz an Bedeutung gewonnen. Erstmals mussten viele, die sonst alles haben, auf bestimmte Dinge verzichten – Konzerte, Flugreisen, der wöchentliche Ausgang. Es handelte sich in der Coronapandemie allerdings nur um einen temporären Verzicht, bei dem anschliessend möglichst schnell alles nachgeholt werden sollte.
Die Welt im Krisenmodus
Die Kombination der Krisen, die uns im Jahr 2022 erreichten, könnten aber dafür sorgen, dass es vielleicht wirklich Raum für eine ernsthafte Diskussion über den Verzicht gibt. Der Krieg in der Ukraine bringt die Weltwirtschaft so sehr ins Wanken, dass jeder in Europa die Folgen am eigenen Portemonnaie spüren kann. Energie, Lebensmittel, Lieferketten – es gibt keinen Bereich, der aktuell nicht von der Krise betroffen ist. Mit dem Winter als kurzfristige Herausforderung und der Klimakatastrophe als langfristige Bedrohung für unseren Lebensstil.
Dabei sind die Themen der aktuellen Krisen durchaus schon länger auf dem politischen Parkett. CO2-Gesetz? 2021 vom Schweizer Stimmvolk abgelehnt. Konzernverantwortungsinitiative? Ebenfalls 2020 abgelehnt respektive am Ständemehr gescheitert. Reformen zum Anbau und zur Qualität von Lebensmitteln? Gleich vier abgelehnte Initiativen in den letzten vier Jahren.
Verzicht und Verbot
Der deutsche Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Philipp Lepenies hat den Themen Verbote und Verzicht in diesem Jahr ein ganzes Buch gewidmet und war im Herbst auch in der Schweiz an Diskussionsrunden beteiligt. Der Verzicht sei dabei in unserer westlichen Gesellschaft stark negativ konnotiert und werde als Widerspruch zur freiheitlichen Marktwirtschaft gesehen. «Verzichten ist weitestgehend verboten – mindestens ein offener Diskurs darüber», sagt der Autor.
Er stellt dabei fest, dass der Widerspruch gegen Verbote und Verzichten in den letzten Jahren lauter geworden ist. Für die KritikerInnen seien diese vor allem staatliche Steuerungsinstrumente, die man bekämpfen muss. Dabei verweisen sie stets auf ihre unveräusserlichen Freiheitsrechte, zu denen sie auch «jedwede individuelle Konsumentscheidung» zählen.
Zugespitzt wird für Lepenies daraus ein Glaubensgrundsatz für «die ökonomische Logik des Wettbewerbsmarktes und die individuelle Nutzenmaximierung als soziale Ordnungsprinzipien». Sprich: an erster Stelle steht der Markt und das Ich. Wenn dann im demokratischen Prozess in diesen Markt eingegriffen wird, kommt es automatisch zum Konflikt. «Die Digitalisierung hat diese Tendenz in den letzten Jahren drastisch verstärkt», so Lepenies.
So werden beispielsweise aus Gesetzesvorschlägen im Sprachalltag schnell eine «Ökodiktatur» und aus DemonstrantInnen «Klima-Terroristen». Durch diese reflexartigen und inflationär genutzten rhetorischen Floskeln im politischen Diskurs soll die eigentliche Debatte gar nicht erst zustande kommen. So sprach etwa SVP-Präsident Marco Chiesa im August an der Delegiertenversammlung in Baar über die aktuelle Energiekrise. Der Plan der anderen demokratischen Parteien? Einen «Ausbau der Ökodiktatur», beschwor der Tessiner. Sinnvoller wäre wohl die Kritik an der bisherigen Schweizer Energiepolitik, an der vier Parteien auch aktiv in der Regierungsrolle beteiligt gewesen sind.
Demokratie im Eigenheim
Letztendlich müsse laut Lepenies akzeptiert werden, dass «der Staat in einer Demokratie die Aufgabe hat, das Verhalten seiner Bürgerinnen und Bürger im Sinne des Allgemeinwohls (das auch zukünftige Generationen einschliessen muss) zu lenken und zu regulieren», wie er in einem Beitrag für die Schweizerische Energie-Stiftung SES schreibt. Im Zuge der Energiekrise gibt es dafür auch ein aktuelles Beispiel.
Im August meldeten die grossen Schweizer Onlinehändler einen Ansturm auf elektronische Heizlüfter – eine Verkaufssteigerung von 300 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Diese können allerdings nur auf den ersten Blick als Alternative zu einer hohen Gasabrechnung angesehen werden, da sie im Gebrauch ineffizient und stromhungrig sind. Da es eine Überlastung inklusive möglichen Ausfalls des Schweizer Stromnetzes zu vermeiden gilt, kam zumindest vom Bundesamt für Landesversorgung die Aussage, dass es zu einem Verbot dieser Geräte kommen könnte. Der Einbau von klassischen Elektroheizungen ist in der Schweiz übrigens bereits seit 2009 verboten – aufgrund ihres hohen Energieverbrauchs.
Wenn die Menschen nicht freiwillig verzichten, braucht es in bestimmten Bereichen neue Regeln und Leitlinien im Sinne des Allgemeinwohls. Denn letztendlich wurden die VolksvertreterInnen aller Parteien genau dafür in ihre Ämter gewählt. Lepenies Fazit in seinem Buch lautet übrigens: «Verzicht gehört zu einer liberalen Gesellschaft.»
Natürlich wünschen wir uns, dass wir gut durch den Winter kommen und Blackout-Szenarien vorerst der gedankliche Worstcase bleiben. Während im September im Vergleich zum Vorjahr in der Schweiz kaum Strom gespart wurde, sank der Verbrauch im Oktober um 13 Prozent zum Durchschnittswert der letzten sieben Jahre. Welchen Anteil nun der freiwillige Verzicht, die Energiesparkampagne des Bundes und das milde Wetter hatte, lässt sich freilich nicht beziffern. Allerdings war es der wärmste Monat Oktober seit Messbeginn in der Schweiz.