Gesundheit

Wenn Selbstoptimierung zum Wahn wird

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Mit moderner Technik wie Smartwatches kann man seine Leistung und Disziplin immer genauer nachmessen und bewerten. Bild: Maridav / Depositphotos

In den sozialen Medien sind Bilder und Videos, die sich um Selbstoptimierung drehen, schon seit langem hoch oben auf der Liste der beliebtesten Posts zu sehen. Doch ob dieser Anspruch, stets das Maximum aus sich herausholen zu wollen, auch gut für die Psyche ist, ist allerdings umstritten.

Auch wenn es Leonardo da Vinci mit dem vitruvianischen Menschen versucht hat – niemand ist perfekt. Und doch streben viele nach Perfektion. Angesichts der unzähligen Möglichkeiten, etwas für die eigene Gesundheit zu tun oder sich eine positive Gewohnheit anzueignen, steht der persönlichen Entwicklung höchstens der innere Schweinehund im Weg – oder wenigstens scheint es so. Insbesondere das Jahresende inspiriert viele zum Rückblick und dazu, sich die Frage zu stellen, wie man das eigene Leben und sich selbst im neuen Jahr optimieren könnte.

Inspiration zur Verbesserung

Wer sich unter die Lupe nimmt, merkt, wie viel Verbesserungspotenzial er oder sie bei sich finden kann – ob im Job, bei der Kleiderwahl, in der Ernährungsweise, im Charakter oder in der aktuellen romantischen Beziehung. Auf der einen Seite ist klar, dass der perfekte Mensch nicht existiert, andererseits fallen die eigenen Unvollkommenheiten im Kontrast zu blankpolierten Instagram-Beiträgen und Werbespots vor dem YouTube-Video besonders stark auf. Freilich kann die Tatsache, dass man sich immer weiter verbessern kann, positiv empfunden werden. So kann man sich stets ein Stück besser kennenlernen, ganz viel Neues lernen, sich immer wieder neuerfinden und Spass daran haben, sich neuen Herausforderungen zu stellen.

Dieser Einstellung spielen auch Trends in sozialen Medien wie Instagram und TikTok zu. Unter Hashtags wie «thatgirl», unter dem der Lebensstil der vermeintlich perfekten jungen Frau vermittelt wird, und «fitspo», was für Fitnessinspiration steht, lassen sich tausende ästhetisch inszenierte Bilder und Videos von scheinbar perfekten Studenten, den glücklichsten Gesichtern, den gesündesten Proteinshakes und den beeindruckendsten Sportskanonen finden. Solche Beiträge zeigen, wie scheinbar einfach es doch sein könnte, sein Potenzial bis zum Äussersten auszuschöpfen und das perfekte Leben zu führen.

Der motivierende Text "It's your story, honey. Feel free to hit 'em with a plot twist whenever you want" steht vor einer Ansammlung an Bildern einer Frau in verschiedenen Lebenssituationen.

Unter #thatgirl lassen sich hunderttausende ästhetische Bilder von jungen Frauen finden, die motivieren sollen, sein bestes Leben zu leben. Bild: Instagram hustlingbabesclub

Unerreichbare Ziele

Obwohl solche Vorbilder aus der Werbung und den sozialen Medien inspirieren sollen, kann der Druck zur Selbstoptimierung auch belastend werden. Vor lauter gut gemeintem Selbstdruck, jeden Tag ein bisschen besser, schneller, leichter, gesünder, positiver zu werden, fällt die Selbstliebe immer schwerer und schwerer. Je mehr man sich mit den eigenen Fehlern und Macken beschäftigt und wegen uneingehaltenen Vorsätzen von sich selbst enttäuscht ist, umso weniger trägt die Absicht, sich selbst zu verbessern, zur eigenen Lebensqualität bei. So stellt sich die Frage, ob dieser Hang zur Selbstoptimierung nicht doch schädlicher sein kann, als er auf den ersten Blick erscheint.

«Durch die sozialen Medien werden wir Idealen ausgesetzt, die nie erreicht werden können», sagt Katja Rost, Soziologiedozentin an der Universität Zürich, dazu. Diese Unerreichbarkeit macht als charakteristisches Merkmal Ideale als solche aus und das Streben nach ebendiesen frustrierend. Hinzu kommt, dass Ideale stets mit dem Zeitgeist gehen und sich folglich immer wieder verändern und unerreichbar bleiben. Daraus folgt, dass selbst wenn man einem Ideal gerecht werden könnte, dieses bereits einige Monate später, wenn nicht noch früher, von der Zeit überholt sein könnte. «Trotzdem versucht das Individuum, sich der Gesellschaft und deren Idealvorstellungen in allen Aspekten anzupassen, um von ihr akzeptiert und gepriesen zu werden», sagt Rost.

Ein Foto von Katja Rost, Soziologin an der Universität Zürich.

Katja Rost ist Soziologin an der Universität Zürich und widmet sich unter anderem dem Phänomen des Drangs zur Selbstoptimierung. Bild: zVg

Individueller Leistungsdruck

Als weiteren Grund für den Trend zur bedingungslosen Selbstoptimierung nennt die Soziologin die Tatsache, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben. Diese gibt der in kürzester Zeit verrichteten Maximalleistung die beste Bewertung und erwartet von ihren Mitgliederinnen stets Leistung, was eine geeignete Voraussetzung dafür bildet, dass dieser Trend überhaupt zustande kommen konnte. Ebenfalls ist für Mitglieder einer Leistungsgesellschaft üblich, Druck zur besseren Leistung zu empfinden, weswegen auch der Selbstdruck zur Verbesserung grosse Ausmasse erreichen kann.

Dieser Druck ist laut Rost mit der suggerierten Absenz von gesellschaftlichen Klassen verbunden. «In unserer individualistischen Gesellschaft kann sich jede einzelne Person ihren Lebensstil sowie ihre Lebensziele scheinbar selbst aussuchen», erklärt sie. Diese Wahlfreiheit wird von der kapitalistischen Marktwirtschaft unterstützt und entsprechend werden uns Ideale zum Beispiel in der Werbung aus praktisch jedem Lebensbereich vorgehalten. Dies steht im Kontrast zu vergangenen Zeiten, als eine begrenzte Anzahl an Idealen für je eine Gesellschaftsschicht die Erwartungen ebendieser beschrieb, so die Dozentin. So wurde man früher in eine soziale Klasse hineingeboren und die Wahlmöglichkeiten des Berufs, des Ehepartners oder der Religion waren gesellschaftlich vorgegeben.

Ein Bodybuilder beim Workout von hinten. Er hebt eine grosse Hantel über seinem Kopf.

Die sozialen Medien erinnern stets daran, wie viel man noch an sich selbst arbeiten könnte. Bild: vova130555@gmail.com / Depositphotos

Heute ist es möglich, sich in die Elite der Gesellschaft hochzuarbeiten und mit genügend Mühe und Ausdauervermögen all seine Ziele zu erreichen; egal, was man sich vornimmt – jedenfalls wird uns dies von der Gesellschaft durch die Medien suggeriert, erläutert die Soziologin. Aus dieser Illusion heraus folgen nicht selten Schuldgefühle sowie ein Gefühl des Versagens, da man trotz der scheinbar vielen Möglichkeiten nicht den eigenen Erwartungen gerecht wird, weil man sich vermeintlich schlicht noch nicht genug angestrengt hat.

Zu viel des Guten?

Obwohl sich nicht klar definieren lässt, ab wann man es mit der Selbstoptimierung übertreibt, können gewisse Anzeichen einen Anhaltspunkt bieten. So geht man dann zu weit, wenn man sich krankhaft oft mit anderen vergleicht und dafür sehr genaue Tools wie Smartwatches einsetzt, führt Rost aus. Praktiken wie das Nachzählen von Kalorien können ungesund werden, wenn man auf das Erreichen der sich gesetzten Ziele hinlebt. «Früher war es gar nicht möglich, sich so stark zu kontrollieren und Kalorien zu zählen oder den Nährwert des Mittagessens zu analysieren», erinnert Rost.

Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene seien vom Druck zur Selbstoptimierung betroffen, weil Social Media bereits seit einem jungen Alter ein fester Bestandteil ihres Lebens sind. Während der Lebensphase der Selbstfindung haben soziale Medien überdies einen noch stärkeren Einfluss auf die Entwicklung des eigenen Weltbilds und auch der Erwartungen an sich selbst im Vergleich zu ab 30. «Hinzu kommt, dass man im jungen Alter nicht genügend Erfahrung hat, um die eigenen Werte und Wünsche von denjenigen, die in den Medien vertreten sind, zu unterscheiden oder unrealistische Vorstellungen als solche zu erkennen», erklärt Rost.

Sich dem Trend zur Selbstmaximierung zu widersetzen ist empfehlenswert, doch Katja Rost stellt infrage, ob dies überhaupt möglich ist. «Der Gesellschaft kann man sich nicht einfach entziehen. Bis zu einem gewissen Grad kann man sich dem Druck jedoch widersetzen und versuchen, Selbstzufriedenheit statt Ideale anzustreben.» Die in den sozialen Medien verbreiteten Ideale haben folglich unabhängig von deren Wertung zweifelsohne einen Einfluss auf den Lebensweg des Einzelnen. Doch dadurch, sich der eigenen Wünsche und Werte bewusst zu sein, kann man die eigenen Vorstellungen von den durch die Gesellschaft aufgezwungenen Bildern schon viel besser unterscheiden.

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Wenn ich nicht gerade an einem Artikel für FonTimes schreibe, kann man mich beim Lesen, Zeichnen und natürlich beim Yoga erwischen. Als gelernte Übersetzerin begeistere ich mich für Sprachen und bin immer für eine Tasse Tee zu haben.
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