Bildung

Lernen im Wandel der Digitalisierung

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Heutzutage ist YouTube nicht nur zu Unterhaltungszwecken, sondern auch für eine breite Auswahl an Lernvideos ein überaus wichtiges Tool. Bild: Y-Boychenko / Depositphotos

Sich Informationen aus Schulbüchern einfach einzuprägen, ist von gestern. Die Digitalisierung hat in den letzten Jahren auch die Schweizer Schulen stark geprägt. Dieses neue Zeitalter benötigt Flexibilität und einen höheren Aufwand, sowohl von Schülern als auch Lehrerinnen.

Wo in der Vergangenheit reihenweise die Schulbücher gewälzt wurden, kommen heute immer öfter digitale Kanäle zum Einsatz. Nicht nur das Lernverhalten von Wissenssuchenden hat sich im Digitalzeitalter stark verändert, sondern auch Lerninstitutionen mussten sich entsprechend über die Jahre hinweg stark anpassen. Wie stark sich dieser Wandel auf alle Betroffenen ausgewirkt hat, verfolgt Thomas Merz, Medienpädagoge bei der Pädagogischen Hochschule Thurgau, seit über 25 Jahren: «Der Lernprozess ist heutzutage sehr viel stärker individualisiert. SchülerInnen arbeiten und lernen selbstständiger, steuern ihr Lernen stärker und setzen sich auch in Partnerarbeit und Teams viel mehr ein.»

Mit der zunehmenden Digitalisierung des Wissens stehen auch deutlich mehr unterschiedliche Quellen zur Verfügung. Früher mussten Schulbücher bestellt werden, später hat der Kopierer die Distribution von Informationen vereinfacht und heute steht SchülerInnen das gesamte Internet zur Verfügung. Das offenbart nicht nur für Lernende neue Möglichkeiten, sondern kann sich auch auf den von Lehrpersonen konzipierten Unterricht auswirken. So müsse in diesen laut Merz etwa nicht immer das gesamte Material zur Verfügung gestellt werden, sondern die SchülerInnen können sich dieses auch in Eigenrecherche beschaffen und miteinander teilen.

Der Pandemie einen Schritt voraus

Die grössten Veränderungen auf der schulischen Ebene, die Merz in seiner bisherigen Zeit als Medienpädagoge miterleben konnte, liegen noch gar nicht so lange zurück: «In den drei Jahren vor der Pandemie ist bezüglich der Digitalisierung mehr passiert als in den 30 Jahren zuvor. Es gibt eine Verlagerung – Schulbücher werden zunehmend durch digitale Materialien ergänzt und es wird von LehrerInnen und SchülerInnen mehr erwartet. Alle müssen sich den sich verändernden Umständen anpassen.» Entscheidend dafür war die Konzeption des Lehrplans 21, an dem Merz beteiligt war. Mit ihm wurde das Fach Medien und Informatik fest in den Schulen verankert.

Portrait Thomas Merz, blaues Hemd, schwarze Fliege

Thomas Merz verfolgt durch seine Arbeit als Medienpädagoge die Entwicklung des Lernverhaltens bereits seit 25 Jahren mit. Bild: zVg

Zuvor wurde die Medienpädagogik nur als eine Verantwortung aller LehrerInnen angesehen und unter Informatik wurde oft rein die Anwendung von Computerprogrammen verstanden. Eine Nebensache, die alle ein wenig beherrschen sollten, statt als essenzielles Fach, das eine bestimmte Expertise benötigt. Für diesen Sinneswandel wurden entsprechend nach der Konzeption des Lehrplans 21 bereits 2018 Massnahmen eingeleitet. Dazu gehörten Weiterbildungen von LehrerInnen und Investitionen in die digitale Infrastruktur. Diese Vorarbeit zahlte sich besonders während der Pandemie aus; plötzlich war die Digitalisierung nicht mehr optional, sondern ein absolutes Muss.

Mehr Informationen, grössere Erwartungen

Digitale Tools sind heute in den Schweizer Schulen angekommen, sowohl bei den Lehrpersonen als auch den Lernenden. Einher mit den digitalen Werkzeugen gehen allerdings auch höhere Erwartungen, die Quantität des von Schulen verlangten Wissens nimmt ebenfalls stetig zu. «Es ist besonders wichtig, sich in dieser Überfülle an Möglichkeiten nicht zu sehr zu verzetteln – dass man nicht von allem ein wenig lernt, sondern das Gelernte wirklich auch vertieft und sich damit auseinandersetzt», rät Merz.

Zusätzlich bestehe ein Risiko, dass SchülerInnen sich durch das Beschaffen der Materialien im Internet durch den Schulstoff durchmogeln könnten – dass einfach kopiert oder gesammelt wird, ohne sich wirklich mit einem Thema auseinanderzusetzen. Auf diese Weise werde es immer einfacher, vorzutäuschen, etwas gelernt zu haben. Ein Problem, das sich durch die zunehmende Verbreitung von künstlicher Intelligenz noch einmal vervielfacht. «Es ist entscheidend, dass SchülerInnen sich im Klaren sind, warum sie eigentlich etwas lernen sollen. Schule ist heute nicht mehr denkbar ohne die Bereitschaft der SchülerInnen, etwas zu lernen», erklärt Merz dazu.

Vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter

Die Aufgabe, sich an die Digitalisierung anzupassen, bewusst mit der Menge an verfügbaren Informationen umzugehen und das Wissen entsprechend in das Lernverhalten zu integrieren, betrifft nicht nur die Lernenden, sondern ebenso die Lehrpersonen. Wo diese in der Vergangenheit primär WissensvermittlerInnen waren, wirken sie heute vielmehr als LernbegleiterInnen. Schliesslich sind die blossen Informationen jederzeit im Internet abrufbar. «Man muss heutzutage viel mehr zwischen Grundwissen und weiterer Vertiefung unterscheiden. Grundlegend geht es darum, dass SchülerInnen wissen, wo das Wissen eine Rolle spielt und wie es angewendet wird», erklärt Merz. Ein Risiko des heutigen Unterrichts sei, diese Unterscheidung zu wenig zu machen und folglich zu viel Detailwissen zu verlangen.

Lehrerin erklärt Schülerin etwas am Desktop-PC

Wo es in der Vergangenheit noch als eine Nebensache angesehen wurde, ist das Fach Informatik heutzutage fest im Lehrplan verankert. Bild: michaeljung / Depositphotos

So verändert dieses Konzept auch grundlegend, wie der Unterricht idealerweise durchgeführt wird. Die Wichtigkeit der Lehrpersonen als Lernbegleiter lässt sich etwa im Kontext der immer wichtiger werdenden offenen Tests erkennen: «Die Einschätzung des persönlichen Lernstandes wird immer relevanter und das reine Reproduzieren und Wiederholen von gelerntem Wissen nimmt an Bedeutung ab», erklärt Merz. Es dürfe eigentlich nur noch da eine Rolle spielen, wo es wirklich um ganz grundlegende Kompetenzen geht. Umso wichtiger ist es, Lernende gezielt auf ihr Wissen zu prüfen: «Es geht nur noch, wenn man weniger, aber dafür vertiefte Prüfungen durchführt. Dabei muss man die schriftlichen Prüfungen mit mündlichen Aspekten ergänzen.»

Zu Risiken und Nebenwirkungen

Mit dem Aufstieg des Internets ist praktisch jede Information online verfügbar – doch für jene, die sich zur Informationsbeschaffung primär darauf verlassen, will Vorsicht geboten sein. Mögliche Falschinformationen sind ein stetiges Problem – ob durch menschliche Fehler, politische oder wirtschaftliche Interessen oder künstliche Intelligenz. Eines der beliebteren Onlinetools zum Lernen ist YouTube. Gemäss der JAMES-Studie 2022 der ZHAW nutzen 52 Prozent der Befragten Videoportale zu Informationszwecken. Praktisch zu jedem Thema gibt es eine Fülle an Erklärvideos – doch auch professionell wirkende Videos können täuschen, falsch oder schlecht recherchiert sein oder schlicht nicht die wichtigen Informationen vermitteln. Hier gilt es, Quellen miteinander zu vergleichen und so die neu gewonnen Informationen zu verifizieren.

Bücherei mit runder Bücherwand

Bei der Fülle an verfügbaren Informationen im Digitalzeitalter ist es einfach, sich zu verzetteln. Bild: PinkBadger / Depositphotos

Diese Problematik ist auch den Schulen bekannt und ist mit der Einführung des Faches Medien und Informatik im Lehrplan noch stärker in den Fokus gerückt. So werden Lernende in der Schule mittlerweile für den kritischen Umgang mit dem Material sensibilisiert. Es wird gezielt darüber gesprochen, aktuelle Diskussionen und gesellschaftliche Fragen werden miteinbezogen und passende Übungen durchgeführt. So werden echte Falschnachrichten überprüft und sogar eigene zu Übungszwecken produziert. Merz nennt als Beispiel ein einzelnes Bild mit fünf komplett unterschiedlichen Untertiteln – bereits durch eine Anpassung dieser kann sich der Kontext der Nachricht immens verändern.

Nicht nur Unterhaltung im Digitalzeitalter

Merz warnt vor einem unerwünschten möglichen Nebeneffekt des Edutainments – der Verbindung von Unterhaltung und Wissensvermittlung. «Ich muss mir als NutzerIn bewusst sein, dass letztlich Lernen nie automatisch passiert, selbst mit den besten Onlinevideos. Man muss sich damit befassen, es braucht Aufmerksamkeit, ich muss etwas verstehen wollen. Ansonsten ist man am Schluss einfach gut unterhalten.» Gleichzeitig kann sich dieser Unterhaltungseffekt auch positiv auswirken, denn wer Spass am Lernen hat, lässt sich auch einfacher dazu motivieren. Gerade deswegen müssen Lehrpersonen sich den neuen Umständen besonders gewissenhaft anpassen, damit das Onlineangebot ihnen nicht den Rang abläuft. Denn für reine Erklärungen des geforderten Wissens greifen viele SchülerInnen bevorzugt auf YouTube-Videos zurück.

«Man muss als LehrerIn jeden Morgen begründen können, warum die eigenen SchülerInnen sich überhaupt mit dem Lernstoff befassen», betont Merz. Es sei für Lehrpersonen wichtig, sich ihrer Rolle bewusst zu sein – den Lernenden Lust zu machen, konkrete und aktuelle Beispiele zu liefern, ihnen die Bedeutung des Stoffes im Eigenleben zu vermitteln, Lernfreude und Motivation zu erzeugen und Lernprozesse zu unterstützen. Für Merz ist klar, wofür Schulen im Digitalzeitalter wirklich stehen sollten: «Im Kern steht die Sinnstiftung, die Förderung des Denkens an sich. Es geht nicht darum, möglichst viele oder wenige Lernmethoden und -medien zu nutzen, sondern darum, SchülerInnen verantwortlich auf die Welt von morgen vorzubereiten.»

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Nebst der Arbeit als Redaktorin der FonTimes begeistert mich die Vielfalt der Medienlandschaft. Ob Filme, Games, Serien oder auch Anime: Bei mir geht alles. In der Freizeit findet man mich ausserdem regelmässig bei der Erkundung von Städten – allen voran Zürich.
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