Alltag

Altersarmut ist oft die Fortsetzung von Armut in früheren Lebensjahren

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Ein gemeinsames Essen schont den Geldbeutel. Bild: aletia / Depositphotos

Laut Pro Senectute Schweiz leben in der Schweiz mehr als 300’000 Personen über 65 Jahren unter oder an der Armutsgrenze. 12,3 Prozent der älteren Bevölkerung beziehen Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV – eine Bedarfsleistung, um eine Existenz zu garantieren. Wir haben mit Alters- und Generationenforscher François Höpflinger darüber gesprochen.

Herr Höpflinger, die eingangs erwähnten Fakten sind erschreckend. Wie sind solch hohe Zahlen in einem reichen Land wie der Schweiz möglich?

Im Rentenalter sind Einkommen und Vermögen sehr ungleich verteilt. Die reichsten 20 Prozent der Rentner und Rentnerinnen verfügen über ein vierfach höheres Bruttoeinkommen als die 20 ärmsten Prozent. Trotz Ausbau der beruflichen Vorsorge sind weiterhin viele ältere Personen allein auf Renten der AHV angewiesen. Gut drei Viertel des Einkommens älterer Menschen basieren auf Renteneinkommen (AHV, berufliche Vorsorge), wobei gesamthaft weniger als ein Drittel aus Einkommen aus einer beruflichen Rente stammt. Die AHV ist – auch angesichts hoher Lebenshaltungs- und Wohnkosten in der Schweiz – oft nicht existenzsichernd. Dies gilt vor allem für Personen, die aufgrund tiefer Löhne oder langjähriger Erwerbsunterbrüche nur eine tiefe AHV-Rente beziehen. Um die 45 Prozent der Altersrentnerinnen geben in etwa so viel aus wie sie einnehmen. Damit haben sie oft keine Reserven für unerwartete Rechnungen wie zum Beispiel höhere Zahnarztrechnungen und höhere Wohnkosten. 10 bis 11 Prozent haben zu wenig finanzielle Reserven, um eine unerwartete Rechnung von 2’500 Franken zu bezahlen.

Was sind die Hauptursachen für Altersarmut?

Altersarmut hat im Wesentlichen die zwei genannten Ursachen: Geringe Löhne und langjährige Erwerbsunterbrüche wegen Arbeitslosigkeit oder Familienarbeit führen zu reduzierten AHV-Renten – wie auch zu geringen beruflichen Renten. Wer während den Erwerbsjahren arm war, bleibt es auch im Rentenalter. Auch Scheidungen, langjährige Auslandsaufenthalte oder gesundheitlich bedingte Frühpensionierungen können zu Rentenkürzungen beitragen. Im Rentenalter können auch altersbezogene Einflüsse wie aufgebrauchtes Vermögen und gesundheitlich bedingte Kosten für Betreuung und Pflege von Bedeutung sein. Speziell hauswirtschaftliche Hilfe und Betreuung müssen im Alter privat finanziert werden, was zu erhöhten Ausgaben und Vermögensverbrauch zwingt. Entsprechend steigt der Anteil an Personen, die auf EL angewiesen sind, mit steigendem Lebensalter an.

Welche Auswirkungen kann Altersarmut auf das Leben von betroffenen Personen haben?

Armut führt generell zu einer reduzierten Lebenserwartung und vor allem zu einer geringeren gesunden Lebenserwartung im Rentenalter. Finanzielle Probleme im Alter und eine schlechte subjektive Gesundheit hängen oft zusammen. So zeigt eine europaweite Datenauswertung, dass 2021/22 70 Prozent der 65- bis 74-Jährigen, die ihre finanzielle Lage als komfortabel beschreiben, sich gesund einschätzen. Bei den 65- bis 74-Jährigen in schwieriger bis sehr schwieriger finanzieller Lage sind es nur gerade 32 Prozent. Armut oder finanzielle Probleme belasten vor allem auch die psychische Situation und reduzieren soziale Kontakte. Einkommensschwache ältere Menschen fühlen sich entsprechend häufiger einsam.

Altersarmut Porträt François Höpflinger

François Höpflinger ist Mitglied der akademischen Leitung des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich. Bild: zVg

Gibt es bestimmte Bevölkerungsgruppen, die stärker von Altersarmut betroffen sind?

Drei Gruppen sind speziell von einem erhöhten Armutsrisiko betroffen. Erstens zeigen sich deutliche Unterschiede je nach Bildungshintergrund. Personen ohne weiterführende Aus- und Weiterbildung haben häufig ein geringes Lohneinkommen und entsprechend später auch geringe Renten. Zweitens sind alleinlebende ältere Menschen häufiger armutsbetroffen als ältere Paare; sei es, weil die relativen Lebenskosten beim Alleinleben höher sind oder weil ein Partnerverlust durch Verwitwung oder Scheidung zu Einkommenseinbussen führt. Der Fakt, dass Frauen im Alter häufiger allein leben als Männer, führt – neben geringeren Rentenansprüchen – dazu, dass Frauen im Alter häufiger unter Armut leiden als gleichaltrige Männer. Drittens weisen ausländische Rentner ein höheres Armutsrisiko auf als Schweizer Bürgerinnen. Dies ist darauf zurückführen, dass viele ehemalige «Gastarbeiter» in Tieflohnbranchen tätig waren. Zusätzlich zeigen sich insofern regionale Unterschiede, als dass die Armutsquoten im Rentenalter hierzulande in ländlichen Regionen höher liegen als in städtischen. Im interkantonalen Vergleich zeigen sich die höchsten Armutsquoten im Tessin.

Sicherlich gibt es noch mehr Betroffene, die EL-Leistungen beziehen könnten, dies aber nicht tun, zum Beispiel aus Scham. Was raten Sie diesen Menschen?

Nach Schätzungen beziehen gut 16 Prozent der Rentnerhaushalte mit Anspruch auf Ergänzungsleistungen zur AHV diese soziale Leistung nicht; sei es wegen fehlenden Wissens über ihre Rechte oder aufgrund von Schamgefühlen, sozial abhängig zu werden. Frauen sind häufiger in einer Situation des EL-Nichtbezugs als Männer. Ebenso sind Rentnerinnen ausländischer Nationalität doppelt so häufig in einer Situation des Nichtbezugs als Schweizer Staatsangehörige. Den stärksten Effekt auf ein Nichtbeantragen von Ergänzungsleistungen zur AHV hat allerdings das Bildungsniveau. Etwas mehr als ein Drittel der Pensionierten mit nur obligatorischem Schulabschluss beantragen keine EL, obschon sie einen klaren Anspruch aufweisen. Am besten ist generell eine rechtzeitige Budgetberatung – etwa durch die Pro Senectute –, um sich frühzeitig über seine Rechte zu orientieren. Wer sich informiert, bevor eine Notlage eintritt, hat mehr Zeit, seine Anrechte durchzusetzen. 

Was wären Lösungsansätze im Kampf gegen Altersarmut in der Schweiz?

Im Prinzip ist durch die bedarfsorientierte Form der EL die Existenz im Rentenalter gesichert. Eine bessere Information über die EL und den Rechtsanspruch könnte helfen. Eventuell wäre es auch sinnvoll, EL bei geringen Renten automatisch auszuzahlen. Individuell können Menschen mit wenig Geld durch soziale Vernetzung Lebensqualität gewinnen, ohne mehr auszugeben. Wer zusammen mit anderen Menschen eine Altersgemeinschaft betreibt, kann Wohnkosten einsparen und gleichzeitig mehr soziale Beziehungen pflegen. Wer mit anderen zusammen einkauft, kocht und gemeinsam isst, kann von Sonderangeboten, Grosspackungen usw. profitieren. Im Rentenalter gemeinsam mit anderen ein Auto oder eine Ferienwohnung zu teilen, kann sich finanziell positiv auswirken. Zumindest ein Teil der Altersarmut in der Schweiz hat auch mit einer übertriebenen Individualisierung zu tun. Langfristig ist Armut im Alter allerdings am ehesten durch eine gute Ausbildung junger Menschen und durch eine hohe Arbeitsintegration mit guten Löhnen zu reduzieren. Armut im Alter ist vielfach die Fortsetzung von Armut in früheren Lebensjahren.

Welche Rolle spielt Altersgeiz?

Altersgeiz bzw. angstgetriebene Sparsamkeit findet sich vor allem bei älteren Menschen, die Angst haben, ihr mühsam Erspartes aufzugeben und dann vom Staat abhängig zu werden. Dies betrifft vor allem auch einkommensschwache Haus- und Wohneigentümer, die befürchten, ihr Haus bzw. ihre Wohnung verkaufen zu müssen und dadurch eine gewohnte und oft günstige Wohnsituation zu verlieren. Der Verlust einer kostengünstigen Wohnung und der zwangsweise Umzug in eine neue, teurere Wohnung kann alte Menschen sehr rasch in eine Notlage bringen. Altersgeiz kann in Einzelfällen auch die Folge einer depressiven Stimmung darstellen, konkret fehlende Kraft und Lust, sich selbst oder anderen etwas zu gönnen. Dies betrifft teilweise auch wohlhabende alte Menschen, die früher – etwa in ihrer Kindheit – Not und Armut erlebt haben.

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