Wenn sich die Festivalsaison vermeintlich dem Ende zuneigt, setzt das Zürcher Theater Spektakel nochmals einem zu einem grossen Höhepunkt an. 18 Tage lang wird dabei die Landiwiese bespielt, wobei sich das Publikum auf packende Darbietungen, Kunstinstallationen und vertiefende Gesprächsformate freuen darf.
Wenn die Landiwiese in Zürich von Theater- und vielen weiteren Kulturschaffenden bespielt wird, kann dies nur eins bedeuten: Das Zürcher Theater Spektakel hat die Limmatstadt fest im Griff. Heuer findet das Festival vom Donnerstag, 14. bis Sonntag, 31. August statt und wartet wiederum mit einem äusserst umfangreichen und vielfältigen Programm auf. Tatsächlich umfasst es rund 250 Veranstaltungen, die vom Tanzsolo bis zum Sinfonieorchester, von grossen internationalen Namen bis zu lokalen Newcomern reichen. Auf der Landiwiese ist also die ganze Bandbreite von Theater, Tanz, Konzerten, zeitgenössischem Zirkus und Kunstinstallationen zu erleben. Hinzu kommen diverse Gesprächsformate zur Vertiefung, vom Stammtisch bis zu «Talking on Water» auf der Seebühne.
Seinen programmatischen Startschuss erlebt das Theater Spektakel am Eröffnungstag mit bildgewaltigen Produktionen, die sich auf unterschiedliche Weise mit der Beziehung des Menschen zur Natur auseinandersetzen. So rückt auf der Seebühne der französische Regisseur Philippe Quesne fünf Vogelscheuchen ins Zentrum seiner bizarren «Farm Fatale» (ab 21 Uhr), in der es wegen der fortschreitenden Umweltverschmutzung weder Vögel noch Menschen gibt. In der Werft zeigen Baro d’evel ab 19:30 Uhr eine poetische Auseinandersetzung mit grossen Zukunftsfragen: «Qui Som». Die französischkatalanische Compagnie, die zwischen Tanz, Akrobatik, Theater und Musik arbeitet, findet grosse Bilder für die aktuell brennenden Fragen menschlicher Existenz und war bereits 2023 Teil des Zürcher Theater Spektakels.

Bei Baro d’evel werden die ganz grossen Fragen gestellt. Bild: Christophe Raynaud de Lage
Die dritte Eröffnungsproduktion ist eine der Arbeiten der diesjährigen Fokuskünstlerin Dorothée Munyaneza: «umuko» ist ein Baum aus Munyanezas Kindheit in Ruanda, die vor über 30 Jahren ein abruptes Ende fand. Mit ihrer Familie floh sie nach London, wo sie erst Sängerin und Musikerin wurde, bevor sie sich in Frankreich zur Tänzerin und Choreografin weiterbildete. Heute arbeitet sie multidisziplinär: Zur Eröffnung ergründet sie in «umuko» gemeinsam mit der Kadidi Company, in der sie junge Künstler aus Ruanda zusammenbringt, die Narben der eigenen Geschichte. Am Sonntag, 17. August, spielen diese ein Konzert auf dem Zentral und ab dem Tag darauf ergründet Munyaneza in ihrem Solo «Toi, moi, Tituba» Spuren der kolonialen Gewalt. Am 20. August ist sie ausserdem Gast bei der thematischen Gesprächsreihe «Talks on Resistance», die in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste erarbeitet wurde.
Eine lehrreiche Weltreise
Die Auseinandersetzung mit unserer Umwelt zieht sich wie ein roter Faden durch das diesjährige Programm. So widmet sich die brasilianische Theatermacherin Gabriela Carneiro da Cunha ab dem 16. August in «Tapajós» den Flusslandschaften des Amazonas und schmiedet eine künstlerische Allianz mit dem Widerstand indigener Frauen und Mütter. Am zweiten Festivalwochenende zeigt die südafrikanisch-schweizerische Theatermacherin Ntando Cele mit feinem Humor eine bitterböse, dystopische Welt nach Fast Fashion und Neokolonialismus; und zum Abschluss lässt die chilenische Autorin und Regisseurin Manuela Infante zwei skurrile Vampire an der Welt verzweifeln. Ihr «Vampyr» liegt irgendwo zwischen europäischem Mythos und einer realen blutsaugenden Fledermausart, die in Chile in grosser Zahl durch Windkraftanlagen ums Leben kommt.

Bei «Farm Fatale» stehen unter anderem Vogelscheuchen im Zentrum des Geschehens. Bild: Martin Argyroglo
Miet Warlop präsentiert ab dem 20. August in vier Vorstellungen ihr neues Stück «INHALE DELIRIUM EXHALE». Dabei handelt es sich um eine Bildexplosion mit einer Gruppe von PerformerInnen und mehr als 3500 Meter Stoff. Und am 25. und 26. August kommt Boris Chamatz, Tänzer, Choreograf und Leiter des Tanztheaters Pina Bausch in Wuppertal, mit seinem radikalen neuen Tanzabend «Somnole» nach Zürich (jeweils 19 bis 20 Uhr). Alleine auf der grossen Bühne, verwandelt er diese tanzend, stampfend, pfeifend und mit viel Humor in den Zustand zwischen Traum und Wachheit.
Faust in Afrika
Zum Festivalabschluss zelebriert das Zirkuskollektiv Gravity & Other Myths vom 27. bis 30. August auf der Seebühne das kontinuierliche Ausprobieren, Scheitern, Weiterüben und das Gelingen in einer energetischen Akrobatik-Show. Und William Kentridge & Handspring Puppet Company zeigen ab dem 28. August jeweils um 19:30 Uhr eine neu bearbeitete Fassung ihrer legendären Produktion «Faustus in Africa!», die bereits in den 1990er-Jahren grosse Erfolge feierte, am Theater Spektakel. Kentrigde hat den Faustmythos nach Südafrika verlegt, mit der Ironie des südafrikanischen Poeten Lesego Rampolokeng ergänzt und so spielerisch Bezüge zur aktuellen Politik und Ausbeutung in Südafrika und auf der Welt hergestellt.

Dorothée Munyaneza ist die diesjährige Fokuskünstlerin. Bild: Dayana Lothert
Neben dem Kernprogramm wartet das Zürcher Theater Spektakel mit zahlreichen weiteren Attraktionen auf: Für die gesamte Festivaldauer sind ab dem Eröffnungstag zwei Installationen und ein 12 Meter hohes Silo auf der Landiwiese zu erleben: Der Berner Künstler Piet Baumgartner konzipiert eine seiner Maschinen-Performances auf dem See, der US-Amerikaner Steve Lambert lädt das Publikum ein, in seiner interaktiven Installation «True/False» abzustimmen und das Silo mitten auf dem Platz ist Spielort für eine spektakuläre Performance des Akrobaten Boris Gibé, einem der Protagonisten der «Nouvelle Magie».
Auch kulinarisch international
In der Reihe «Talking on Water» hinterfragt die deutsche Transformationsforscherin und Bestsellerautorin Maja Göpel am 17. August die «Normalität» und Übereinkünfte westlicher Gesellschaften. Die Ökonomin und Wirtschaftsnobelpreisträgerin Esther Duflo spricht eine Woche später über die Zusammenhänge von Ungleichheit und Klimawandel.
Musikalisch wird es auf der Seebühne. Dies unter anderem mit einem Konzert von Black Country, New Road (19. August), Orchesterkaraoke (21./22. August) und zwei Abenden «By the Lake – more stories from the Nerve Bible» mit der amerikanischen Musikerin und Performancekünstlerin Laurie Anderson am 25. und 26. August. Insgesamt kommen über 200 KünstlerInnen aus fünf Kontinenten und 33 Produktionen ans diesjährige Theater Spektakel. Das vollständige Programm findet sich online.

Was macht Faust plötzlich in Afrika?! Bild: Kim Gunning
Selbstredend ist am Zürcher Theater Spektakel auch für das leibliche Wohl gesorgt. Schon seit vielen Jahren bilden die Bars und Restaurants auf der Landiwiese ein wesentliches Element der Theater-Spektakel-Atmosphäre. Dabei findet sich von argentinischen Empanadas bis Suya-Spiesse vom Holzfeuer für jeden Gaumen etwas, und zwar für den kleinen und grossen Hunger. In den Bars und Restaurants finden an einzelnen Abenden ausserdem Konzerte statt.
Vor 45 Jahren erfolgte der Startschuss
Gegründet wurde das Zürcher Theater Spektakel 1980 als internationales Treffen freier Theater. Schon bald entwickelte es sich zu einem kulturellen Anlass mit internationaler Anziehungskraft. Heute ist es eines der wichtigsten europäischen Festivals für zeitgenössische Formen der darstellenden Künste. Das parkartige Gelände auf der Landiwiese direkt am Zürichsee umfasst bis zu acht eigens errichtete Spielstätten unterschiedlicher Grösse. Darüber hinaus werden die Werfthalle sowie die Bühnen des Kulturzentrums Rote Fabrik bespielt. Aufführungen unter freiem Himmel, frei zugängliche Installationen und künstlerische Interventionen auf dem Gelände sowie die festivaleigenen Restaurants und Bars lassen die Landiwiese während des Festivals zu einem Anziehungspunkt für Kulturinteressierte und Nachtschwärmer werden.
Geleitet wird das Festival von einem Trio: Für die technische Leitung ist Veit Kälin (seit 2015) zuständig, für die künstlerische Leitung Matthias von Hartz (seit 2017) und für die kaufmännische Leitung Sarah Wendle (seit 2020).
Ein Grossteil der Projekte auf der Landiwiese ist kostenlos zugänglich. Tickets für die kostenpflichtigen Veranstaltungen sind im Vorverkauf online erhältlich, sowie an der Verkaufsstelle Bellevue und telefonisch. Ausserdem sind für alle Vorstellungen ab 90 Minuten vor Vorstellungsbeginn Tickets an der Abendkasse auf der Landiwiese erhältlich. Für die Werft und die Rote Fabrik gibt es keine Abendkasse vor Ort. Die Ticketpreise variieren je nach Vorstellung. Die Eintrittskarte für eine Vorstellung gilt am Veranstaltungstag als Billett für die Hin- und Rückfahrt im Stadtnetz (Zone 110, 2. Klasse).